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Die Wahrheit über Alice

Die Wahrheit über Alice

Titel: Die Wahrheit über Alice
Autoren: Rebecca James
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fühlt. Es ist in letzter Zeit ständig
     so mit ihr. Sie redet immerzu, plant immerzu, ist immerzu voller Ideen und pragmatischer Themen. Sie kann es nicht ertragen,
     still zu sein oder sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Auf diese Weise lässt sie sich keinen Platz für Erinnerungen, keinen
     Raum für Gedanken an das, was sie verloren hat. Und sie macht es auch |29| ihrem Gegenüber unmöglich, zu Wort zu kommen, über etwas zu reden, worüber sie nicht reden will, oder Rachel auch nur zu erwähnen.
    Die moderne Art der Trauer, die angeblich richtige Art, ist die, über den Verlust zu reden, zu weinen, zu toben und zu wehklagen.
     Mein Therapeut hat gesagt, wir müssen reden. Und in jenem endlos langen Jahr, nachdem Rachel getötet worden war, habe ich
     versucht, über das Geschehene zu reden, meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen, unseren Verlust in Worte zu fassen, mich
     meiner Verzweiflung zu stellen. Aber Dad weigerte sich zuzuhören, und Mum fiel mir ins Wort, wechselte das Thema, und wenn
     ich nicht lockerließ, fing sie an zu weinen und verließ den Raum.
    Also gab ich auf. Ich hatte das Gefühl, sie zu quälen, und ich hatte mich irgendwann selbst gründlich satt, mich und meine
     Bedürftigkeit. Indem ich darüber redete, hatte ich mir Absolution erhofft, die Beruhigung, dass Mum und Dad mir keine Schuld
     gaben. Aber ich hatte das Unmögliche verlangt, wie ich irgendwann begriff. Natürlich gaben sie mir die Schuld. Weil ich feige
     gewesen war, weil ich geflohen war, weil ich gelogen hatte. Wenn schon eine ihrer Töchter sterben musste, dann hätte es mich
     treffen sollen.
    Und ich glaube nicht mehr daran, dass es eine sichere Methode gibt, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertigzuwerden.
     Es gibt einfach nur diesen gigantischen Schmerz, eine ständige und furchtbare Last, die man mit sich rumschleppt, und sie
     verschwindet nicht und wird auch nicht leichter, wenn man darüber redet. Rachel starb auf die grässlichste Weise, die man
     sich nur vorstellen kann. Gegen diese brutale Wahrheit sind alle Worte machtlos. Rachel ist tot. Sie ist für immer fort, und
     wir werden nie wieder ihr hübsches Gesicht sehen, nie wieder ihre Musik hören. Sie ist tot.
    |30| Wieso wir das Bedürfnis verspüren sollten, uns in dieser Realität zu suhlen, alles wieder und wieder durchzukauen, darin herumzuwühlen
     und es uns anzusehen, bis uns die Augen bluten, bis das Entsetzen und die unfassbare Traurigkeit uns das Herz zermalmen, ist
     mir unbegreiflich. Das kann unmöglich helfen. Nichts kann helfen. Wenn Mum es nötig hat, stoisch zu sein, so zu tun, als gehe
     es ihr gut, ihre Verzweiflung hinter einem durchsichtigen Schleier aus forschem Tatendrang und sachlichem Plauderton zu verbergen,
     dann soll es mir recht sein. Es ist eine Art, um mit ihrem beschädigten Leben weiterzumachen, nicht besser und nicht schlechter
     als alle anderen.
    Ich drücke den Zeigefinger auf die kleine kreisrunde Narbe über meinem Knie. Sie ist mein einziger greifbarer Beweis für die
     Nacht, in der Rachel getötet wurde, die einzige körperliche Verletzung, die ich erlitten habe. An jenem grauenhaften Tag in
     Melbourne starb das falsche Mädchen. Und obwohl ich mir nicht wirklich wünschen kann, statt Rachel gestorben zu sein, denn
     ich habe nun mal nicht das Zeug zur Märtyrerin, ist mir absolut bewusst, dass die bessere Schwester gestorben ist.

|31| 4
    R achel betrat die Bühne, und das Publikum verstummte augenblicklich. Sie sah wunderschön aus, groß und hinreißend. Ihr rotes
     Samtkleid – für das Mum und Dad ein kleines Vermögen bezahlt hatten – betonte ihre Größe und ihre Figur. Sie war erst vierzehn,
     aber auf der Bühne wirkte sie wie eine Frau über zwanzig.
    Mum drückte aufgeregt meine Hand, und ich sah sie an und lächelte. Selbstvergessen betrachtete sie Rachel auf der Bühne, die
     Lippen gespitzt zu der lustigen Miene, die sie aufsetzte, wenn sie mit aller Kraft versuchte, ein strahlendes Lächeln zu unterdrücken,
     die Augen feucht von glücklichen, zärtlichen Tränen. An ihrer anderen Seite wandte Dad den Kopf, um Mums Blick aufzufangen,
     doch stattdessen trafen sich unsere Blicke. Wir lächelten uns an – amüsiert über Mums Gesichtsausdruck – und platzten beide
     vor Stolz auf unsere Familie.
    Rachel setzte sich ans Klavier, den Rock ihres Kleides elegant über die Beine drapiert, und fing an zu spielen. Ihr erstes
     Stück war eine Mozartsonate – anmutig, zart, mit einer
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