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Die Wahrheit über Alice

Die Wahrheit über Alice

Titel: Die Wahrheit über Alice
Autoren: Rebecca James
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dich in der Stadt.»
    Es hat keinen Sinn, dagegen zu reden, ich will sie nicht aufregen oder unnötig Theater machen. Seit Rachels Tod sind meine
     Eltern geradezu besessen davon, für meine Sicherheit zu sorgen, alles Menschenmögliche zu tun, damit ich am Leben bleibe,
     und ich habe keine andere Wahl, als ihre Geschenke und ihre Fürsorge zu akzeptieren.
    «Klingt toll, Mum», sage ich. «Danke.»
    «Was macht die Schule? Sind deine Noten etwas besser geworden?»
    «Ja», lüge ich. «Viel besser.»
    «Ich hab was über das Medizinstudium an der Uni hier in Newcastle gelesen. Die Fakultät ist ziemlich fortschrittlich, weißt
     du, und hat genauso einen guten Ruf wie die in Sydney. Ja, ich glaube sogar, sie ist ziemlich angesagt. Und unter den Dozenten
     sind hervorragende Ärzte. Bitte, denk wenigstens drüber nach, Schätzchen. Mir zuliebe. Wohnen könntest du bei uns. Du weißt,
     wie sehr Daddy sich darüber freuen würde, und du könntest dich voll und ganz auf dein Studium konzentrieren, ohne dir Gedanken
     über die Miete oder über Rechnungen oder das Essen machen zu müssen. Wir könnten uns um dich kümmern und dir alles erleichtern.»
    |27| «Ich weiß nicht, Mum, ich weiß nicht. Im Augenblick mag ich am liebsten englische Literatur, und auch Geschichte, überhaupt
     Lesen   … Naturwissenschaften liegen mir nicht so   … jedenfalls, ich dachte, ich studiere vielleicht irgendwas mit Geisteswissenschaften oder so. Und, Mum, ich lebe total gern
     in Sydney, wirklich.»
    «Oh, natürlich, klar. Bei Vivien zu wohnen, ist ja auch ideal, und ich weiß, sie freut sich riesig, wenn du bleibst. Und ein
     geisteswissenschaftliches Studium ist ein wunderbarer Anfang. Aber eben nur ein Anfang, bis zum Bachelor, Schätzchen. Du wirst
     wieder nach vorne schauen müssen. Irgendwann. Wenn du so weit bist.»
    Nach vorne schauen. Wenn du so weit bist. Konkreter geht Mom nie darauf ein, was mit Rachel passiert ist, was wir verloren
     haben, welches Leben wir führten, bevor sie starb. Ich war in der Zehnten und sehr gut in der Schule – die Beste meines Jahrgangs.
     Ich hatte gehofft, zwei Jahre später einen so guten Abschluss zu machen, dass ich Medizin studieren könnte. Ich wollte Gynäkologin
     werden, ich hatte alles genau geplant. Doch als Rachel starb, lösten sich meine Pläne in Luft auf. Ihr Tod warf mich völlig
     aus der Bahn. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, als befände ich mich im freien Fall.
    Und in dieser furchtbaren Zeit stellte ich fest, dass Naturwissenschaften und Mathematik, das ganze konkrete Zeugs, für das
     ich mich so begeistert hatte, völlig nutzlos war, wenn es darum ging, Trauer zu begreifen und mit Schuld fertigzuwerden.
    Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, je wieder zu meinem alten Leben und meinen alten Vorlieben zurückzufinden. Ich habe inzwischen
     einen anderen Kurs eingeschlagen, nehme ganz, ganz langsam wieder Fahrt auf, und ich glaube nicht, ihn noch einmal ändern
     zu können oder es auch nur zu wollen.
    |28| «Ich denke drüber nach.»
    «Gut. Ich schicke dir ein paar Broschüren.» Dann lacht sie, doch ich höre das leise Beben in ihrer Stimme. Ein Zeichen dafür,
     dass ihr durch unser Gespräch zum Weinen zumute ist. «Ich hab inzwischen einen ordentlichen Stapel gesammelt.»
    Ich berühre die Sprechmuschel, als könnte ich ihr dadurch etwas Trost spenden. Obwohl sie doch untröstlich ist. Sie lebt ihr
     Leben nur in graduell unterschiedlichen Schmerzstufen.
    «Das kann ich mir vorstellen», sage ich, so herzlich wie möglich.
    «Oh.» Ihre Stimme ist jetzt wieder resolut und geschäftsmäßig, sämtliche Emotionen sind unter Kontrolle. «Entschul dige , du denkst sicher, ich nehme dich hier in Beschlag, wo du doch bestimmt auch noch mit Daddy sprechen willst, nicht? Er ist
     gerade nicht da, Schätzchen, aber ich sag ihm, er soll dich später anrufen.»
    «Schon gut. Ich krieg Besuch von einer Freundin. Ich melde mich dann morgen nochmal.»
    «Oh, ich bin so froh, dass du Spaß hast.» Wieder höre ich das Beben, dann ein rasches Husten, um ihre Stimme wieder in den
     Griff zu bekommen. «Mach dir einen schönen Abend. Ich sag Daddy, er soll dich morgen anrufen. Ruf du nicht an. Wir sind wieder
     dran mit Zahlen.»
    Als ich auflege, fühle ich mich leer, meine ganze Vorfreude auf den Abend ist verflogen. Ich hätte nicht anrufen sollen. Es
     hat mich nicht froh gemacht, und ich bin sicher, dass Mum sich jetzt nur noch elender
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