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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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jung. Doch hebe deine Ehrfurcht und dein Staunen für den Augenblick auf, da wir wahrhaftig am Grab des Herrn stehen werden. Dies hier«, er deutete auf die Mauern und das Tor, das hinter ihnen lag, die Straße vor ihnen und die Häuser ringsum, »dies alles ist lediglich Menschenwerk. Und es kann ebenso leicht wieder zerstört werden, wie es erbaut wurde. Während die Werke unseres Herrn Jesus Christus bis in alle Ewigkeit fortbestehen werden. Komm, Stefano, lass uns unseren Weg fortsetzen.«
    Sie gingen durch das verschlungene Labyrinth der Straßen, durchschritten kleine Torbögen, überquerten Plätze und kamen durch Gassen, die so schmal waren, dass Stefanos Schultern die Hauswände rechts und links berührten. Endlich öffnete sich die Straße ein wenig. Sie standen vor einem Säulengang, und dahinter lag ein Platz, an dessen Stirnseite ein großes Gebäude stand.
    »Wir sind am Ziel«, sagte Pater Giacomo und schritt lächelnd aus. »In wenigen Augenblicken stehen wir am Grab des Herrn.«
    Stefano verharrte in ungläubigem Staunen. Hatte Pater Giacomo ihm nicht erzählt, er sei selbst das erste Mal in Jerusalem ? Und doch hatte er durch das Gewirr der Straßen und Gassen den richtigen Weg gefunden, ohne auch nur ein einziges Mal danach fragen zu müssen. Mit der Sicherheit und Unfehlbarkeit einer Brieftaube hatte er seinen Weg gefunden. Oder hatte der Herr ihn geführt? War ihnen ein Engel vorausgeeilt , den Stefano nur deshalb nicht sehen konnte, weil sein Glaube nicht stark genug war?
    »Komm, Stefano!«, rief Pater Giacomo, der schon beinahe die große Flügeltür der Kathedrale erreicht hatte. »Nun komm schon!«
    Stefano schluckte. Und dann lief er so schnell ihn seine Beine trugen hinter Pater Giacomo her.
    Der linke Seitenflügel der Tür stand offen. Langsam und bedächtig traten sie in den Vorraum der Kirche. Das Licht, das durch die geöffnete Tür und die schmalen, hohen Fenster fiel, reichte gerade aus, um den Vorraum zu erhellen. Alles dahinter lag im Dunkeln. Und es war still. Es war so still, dass Stefano sein eigener Atem laut wie das wütende Schnauben eines Stieres vorkam. Außer ihnen schien kein Mensch anwesend zu sein. Umso mehr erschrak er, als ein Mann auf sie zutrat, so plötzlich, als wäre er soeben aus dem Nichts aufgetaucht.
    »Willkommen in der Grabeskirche, Pilger«, sagte er. Er trug eine Kopfbedeckung, wie Stefano sie nur von den Moslems kannte. Auch seine Kleidung war muslimisch, und er hatte einen buschigen Bart, der fast bis zu seiner Brust reichte. Er rieb seine Hände wie ein Mann, dessen Laden sie betreten hatten und der jetzt ein lohnendes Geschäft witterte. Was konnte er nur hier wollen?
    »Guten Tag«, erwiderte Pater Giacomo und betrachtete den Mann mit gerunzelter Stirn von Kopf bis Fuß. »Wer seid Ihr?«
    »Mein Name ist Ali al Nuseibeh«, antwortete er und verneigte sich höflich. »Ich bin der Torwächter dieser christlichen Pilgerstätte. Sofern Ihr sie betreten wollt, muss ich Euch um eine angemessene Summe bitten.«
    Er lächelte und streckte ihnen die geöffnete Hand entgegen. Dabei war er gewiss kein Bettler, denn seine Kleidung war sauber und von ausgesuchter Qualität.
    »Wer bei allen Engeln im Himmel gibt dir das Recht …«
    »Dieses Recht, Pilger, und die damit verbundene Aufgabe, über diese Pilgerstätte zu wachen, hat meine Familie bereits seit mehr als zweihundert Jahren inne«, erwiderte der Moslem . »Und jeder Christ muss sich fügen. Oder diesen Ort wieder verlassen.«
    Pater Giacomo stieß seinen Stab heftig auf den Boden. Das Holz ächzte, und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre zerbrochen . Dann wühlte er aus einem kleinen ledernen Beutel ein paar Münzen hervor.
    »Nun gut«, sagte er, und Stefano wunderte sich, wie er trotzdem so ruhig und freundlich bleiben konnte. Er selbst war entsetzt über die Dreistigkeit des Mannes. »So geben wir denn dem Sultan, was des Sultans ist. Dreißig Silberlinge wären wohl passender, leider besitze ich nur fünf.«
    Der Moslem lachte und nahm die Münzen. Dann verneigte er sich und trat einen Schritt zur Seite.
    »Bitte, geht, edle Pilger«, sagte er spöttisch. »Ihr dürft so lange bleiben, wie es Euch beliebt. Allerdings werde ich die Tür vor Sonnenuntergang verschließen. Wenn Ihr die Nacht nicht hier verbringen wollt, solltet Ihr die Kirche vorher wieder verlassen haben.«
    Er kehrte in seine Nische zurück, die er sich mit Kissen, Fellen , einem Tisch und allerlei anderen Annehmlichkeiten
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