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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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übel, und erneut spürte er das Verlangen, die Flasche gegen die Mauer zu schmettern.
    »Rashid?« Yussuf legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Was ist mit dir los?«
    »Nichts«, antwortete Rashid und schüttelte seine Bedenken ab. Er warf die Flasche nicht gegen die Mauer. Vielleicht befand sich darin eine Reliquie. Die Christen bewahrten schließlich alles Mögliche ihrer heiligen Männer auf und stellten es in ihren Kirchen zur Schau – persönliche Gegenstände, Kleidungsstücke , Haare, Knochen. Vielleicht befand sich in der Flasche das Blut eines christlichen Heiligen. Oder gar das Blut Jesu Christi. Und der war immerhin einer jener Propheten, die Allah in Seiner unermesslichen Güte vor Mohammed zu den Menschen gesandt hatte. »Du hast Recht. Es ist alles in Ordnung .«
    Er wickelte die Flasche wieder in ihr purpurfarbenes Tuch und ließ sie in die Tasche des Glatzköpfigen zurückgleiten. Doch seltsamerweise war ihm dabei nicht besonders wohl. Er hatte das Gefühl, als ob es besser gewesen wäre … Egal. Er trat einen Schritt zurück.
    »Verschwindet, ihr haltet den Verkehr auf«, zischte er den beiden Pilgern zu und winkte sie ungeduldig an sich vorbei.
    »Ich danke dir, mein Sohn«, sagte der Glatzköpfige. Das Lächeln auf seinem Gesicht war wie eingemeißelt. Rashid wurde das Gefühl nicht los, dass er einen schwerwiegenden Fehler beging, wenn er die beiden jetzt nicht aufhielt, sie in den tiefsten Kerker sperrte und den Schlüssel fortwarf. »Wir werden am Grab unseres Herrn für dein Wohlergehen beten.«
    Er sah ihnen nach, wie sie ohne große Eile ihren Weg fortsetzten . Dieser Glatzköpfige war so ruhig, so gelassen. Zu ruhig und zu gelassen für einen harmlosen Pilger. Und doch …
    »Nun komm schon, Rashid!«, rief ihm Yussuf zu, der wieder seinen Posten auf der anderen Seite des Tores eingenommen hatte. »Lass die beiden gehen. Aber das stimmt schon, die Langeweile hier am Tor lässt einen am helllichten Tag Geister sehen. Wir sollten uns lieber ablenken. Wie wäre es mit einer Partie Schach?« Mit einem Lächeln zog er einen Beutel aus der Tasche und schüttete einen Haufen Steine auf den Boden. Es waren weiße und dunkle Kiesel mit eingekratzten Symbolen.
    Rashid nickte. Wahrscheinlich hatte Yussuf Recht, und er bildete sich alles nur ein. Sein Geist spielte ihm einen Streich, nur um vor Langeweile nicht verrückt zu werden. Was gab es da Besseres als eine Partie Schach? Er zog seinen Dolch, um das Spielbrett in den Sand zu ritzen.
    »Heute werde ich dich bestimmt besiegen«, sagte Yussuf, während er die Steine an ihre Plätze legte.
    Rashid lächelte. »Wir werden sehen. Du hast den ersten Zug.«
    Das Vorbild
    Sie hatten kaum das Stadttor hinter sich gelassen und waren außerhalb der Sichtweite der Soldaten, als Stefano taumelte und beinahe gestürzt wäre. Er keuchte, das Blut rauschte in seinen Ohren, seine Knie zitterten und drohten unter ihm nachzugeben. Sie waren weich wie Butter, die lange in der Sonne gestanden hatte.
    »Stefano, mein Sohn, was ist mit dir?« Pater Giacomo blieb stehen. Er lächelte immer noch, und Stefano fragte sich, woher er diese Gelassenheit und Zuversicht nahm. »Mach dir keine Sorgen. Es ist alles gut.«
    »Aber … Pater, dieser … dieser Soldat … er hat …« Er konnte nicht weitersprechen. Bei dem Gedanken, dass der Soldat , ein Moslem, die Flasche berührt hatte, jene Flasche, in der Pater Giacomo das größte Heiligtum aufbewahrte, das die Christenheit kannte, das Blut des Herrn Jesus Christus, wurde ihm schwindlig. Er hatte erwartet, dass dem Frevler auf der Stelle der Arm abfallen würde. Oder doch wenigstens Gottes Zorn in Form eines Blitzes auf das Tor niedergehen und es in Schutt und Asche legen würde, wie damals Sodom und Gomorra . Und doch war nichts geschehen.
    »Ich weiß, mein Sohn, dieser Soldat hat die Flasche berührt. Doch wir brauchen uns deshalb nicht zu sorgen. Er hat nur das Gefäß in der Hand gehabt, er hat das Glas angefasst, und das ist unbedeutend. Das heilige Blut unseres Herrn wurde nicht besudelt«, sagte Pater Giacomo. Dann beugte er sich zu Stefano. Sein Mund lag jetzt dicht an seinem Ohr, und er sprach so leise, dass niemand sonst auf der Straße ihn hören konnte. »Glaub mir, dieser Bursche wird für seinen Frevel bezahlen . Gott wird ihn strafen, wenn es an der Zeit ist.« Er richtete sich wieder auf und legte Stefano eine Hand auf die Schulter . Seine Augen glänzten. »Komm jetzt, mein Sohn, lass uns weitergehen.
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