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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Engels, die zu ihm gesprochen hatte? »Diene dem Herrn«, hatte diese Stimme gesagt. Diene dem Herrn. Aber wie?
    Pater Giacomo hatte bereits den Säulengang erreicht. Seit Stefano denken konnte, war er nicht von Pater Giacomos Seite gewichen. Von ihm hatte er alles gelernt, was er wusste. Pater Giacomo hatte ihn in den Glauben eingewiesen, an seiner Seite hatte er die Gelübde des Ordens abgelegt. Diene dem Herrn. Er kannte keinen anderen Ort, an dem er den Auftrag der Stimme besser erfüllen konnte als an Pater Giacomos Seite. Ja, das war seine Aufgabe. Gemeinsam mit ihm würde er dem Herrn den Weg bereiten und alle Hindernisse beseitigen. Auch wenn er sich dadurch in Gefahr begeben würde.
    Stefano schulterte seine Tasche mit den Resten ihres bescheidenen Mahles und beeilte sich, seinen Lehrer einzuholen.

II
    Ansichten eines Narren
    Es klingelte.
    Anselmo schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um. Er hatte geträumt, er sei auf dem Markt gewesen. Nicht auf einem jener Märkte, wie sie heutzutage überall in Florenz zu finden waren. Märkte, auf denen Libyer, Tunesier und Schwarzafrikaner auf klapprigen Tapeziertischen und staubigen Wolldecken lautstark Kleidung, Stoffe, Schuhe, Handtaschen und Sonnenbrillen anboten – billige Ware, deren Lebensdauer kaum bis Sonnenuntergang reichte. Nein, er war auf einem Markt gewesen , wie er ihn noch aus seiner Kindheit und Jugend kannte. Einem Markt, auf dem es verlockend nach Räucherwaren, würzigem Käse, heißen Würsten und knusprigem Brot duftete, wo Händler kostbare Stoffe und erlesene Gewürze aus dem unvorstellbar fernen Indien anpriesen und Gaukler in bunten Gewändern für ein paar Kupfermünzen ihre Kunststücke zeigten. Im Traum hatte er sein altes Harlekinkostüm getragen und hatte das getan, was er am besten konnte. Er hatte die armen Leute mit scharfzüngiger Rede erheitert und dabei Ausschau nach jemandem gehalten, den er von der qualvollen Bürde einer prallen Geldbörse befreien konnte.
    Es klingelte wieder. Anselmo rieb sich die Augen, um endlich in die Realität zurückzufinden. Über ihm wölbte sich keineswegs der blassblaue Himmel eines florentinischen Sommermorgens , und es duftete auch nicht mehr nach deftigen Würsten, Speck und knusprigem Brot. Der Geruch von Waschmittel und Weichspüler stieg ihm in die Nase. Und er blickte empor zu einer beigefarben getünchten Zimmerdecke, in die mehr als ein Dutzend Halogenstrahler eingelassen waren . So widerwillig er sich auch von seinem Traumbild trennen wollte, er befand sich nicht mehr auf dem Marktplatz. Er war …
    »Zu Hause«, sagte er leise und wunderte sich, welch seltsamen Geschmack diese Worte auf seiner Zunge zu hinterlassen schienen. Sie waren schal und staubig wie eine von Dilettanten gestrickte Lüge.
    Und erneut klingelte es, diesmal schon deutlich drängender. Es war die Türklingel, ein überaus melodischer Gong, keinesfalls vergleichbar mit der Glocke, die früher in Cosimos Palazzo gehangen hatte. Die war so laut gewesen, dass Anselmo jedes Mal beinahe aus dem Bett gefallen war, wenn ein morgendlicher Besucher an der Schnur gezogen hatte. Trotzdem klang das Geräusch in diesem Moment hässlich und schrill in seinen Ohren. Und wer auch immer dort unten stand und um Einlass begehrte, er schien immer ungeduldiger zu werden. Anselmo sprang von dem Sofa auf, auf dem er eingeschlafen war. Es war hell, groß und viel weicher als jedes Bett, in dem er früher geschlafen hatte. Und dennoch …
    Er lief die Treppe hinunter zur Eingangstür. Durch das schmale Milchglasfenster in ihrer Mitte erkannte er die Silhouette eines Menschen. Anselmo öffnete die Tür. Es war eine junge Frau.
    »Oh, es ist doch jemand da«, sagte sie, steckte einen Kugelschreiber in ihre Hosentasche und bückte sich nach einem großen offenen Pappkarton voller Briefe, der vor ihr auf der Türschwelle stand. »Ich wollte schon …«
    Sie hob den Blick, und ihr Gesicht überzog sich mit flammender Röte. Mit gerunzelter Stirn sah Anselmo an sich hinab , um herauszufinden, ob er vielleicht – wie in seinem Traum – die Kleidung eines Narren trug. Doch er hatte gewöhnliche Jeans an und ein T-Shirt. Er trug zwar weder Schuhe noch Strümpfe, doch es war gewiss nichts Besonderes, im eigenen Heim barfuß umherzulaufen. Trotzdem starrte sie ihn an, als hätte sie nicht erwartet, ausgerechnet ihn hier anzutreffen .
    »Guten Tag«, sagte er, weil ihm in diesem Augenblick einfach nichts Besseres einfiel.
    »Ja … äh, guten
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