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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Tag«, stammelte die Frau. Sie war jung, zwanzig, vielleicht zweiundzwanzig. Jung, farblos und unglaublich nervös. »Ich wollte nur …«
    Verlegen strich sie sich das dunkle Haar aus dem Gesicht.
    »Die Post?«, half Anselmo ihr weiter und versuchte es mit einem Lächeln. Manchmal nützte das etwas. »Sie wollten uns wohl die Post bringen? Aber wo ist Luigi?« Luigi war ein liebenswürdiger alter Mann, der bereits seit mehr als zwanzig Jahren jeden Tag die Post für Cosimo aus dem gemieteten Postfach holte und vorbeibrachte. Niemand sonst wusste, welche Adresse sich hinter der fünfstelligen Ziffer des Postfachs verbarg. Für diesen Dienst wurde Luigi beinahe königlich bezahlt – allerdings eher für seine Verschwiegenheit denn für die Tätigkeit an sich. »Und wer sind Sie?«
    »O ja, natürlich!« Die Briefträgerin kicherte wie ein schüchterner Teenager. »Ich bin die Lungenentzündung. Ich meine, Luigi ist meine Enkelin … äh …« Sie lief erneut so dunkelrot an, dass Anselmo befürchtete, gleich nach einem Arzt rufen zu müssen. Sie holte tief Luft. »Mein Großvater ist krank. Lungenentzündung. Ich soll Ihnen heute die Post bringen.« Sie sprach so hastig, als fürchtete sie ihre Rede zu vergessen, wenn sie nur ein bisschen langsamer sprechen würde. Dann hob sie den Karton auf, drückte ihn Anselmo in die Arme und drehte sich so abrupt um, dass er erschrocken einen Schritt zurücksprang.
    »Auf Wiedersehen. Und Ihrem Großvater gute Besserung !«, rief er ihr hinterher. Sie rannte die Treppe hinunter, schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr die Einfahrt hinab, als hätte sie Angst davor, er könnte es sich anders überlegen und sie mit einer Axt in der Hand verfolgen.
    Kopfschüttelnd schloss Anselmo die Haustür. Für einen kurzen Augenblick spiegelte sich sein Gesicht in der Milchglasscheibe , das jugendlich glatte Gesicht eines Mannes in den Zwanzigern. Er gehörte nicht zu den Männern, die stundenlang ihr Spiegelbild betrachteten. Und da Cosimo bereits vor vielen Jahren sämtliche Spiegel aus seinem Haus verbannt hatte, hatte er ohnehin nicht oft die Gelegenheit dazu. Doch manchmal, wenn er sich in einem Schaufenster sah oder in dem Spiegel einer Boutique, wunderte er sich, dass er eigentlich immer noch genauso aussah wie früher. Wie damals, als er auf den Märkten von Florenz in der Kleidung eines Narren umhergesprungen war und den reichen Bürgern ihre Börsen aus den Taschen gestohlen hatte.
    Das ist lange her, dachte Anselmo und rieb sich nachdenklich das Kinn. Fünfhundert Jahre sind eine verdammt lange Zeit.
    Er stellte den Karton auf einem Tisch in der Eingangshalle ab. Wie er erwartet hatte, war er randvoll mit Briefen, die an Herrn Cosimo Mecidea adressiert waren. Anselmo nahm ein paar heraus und betrachtete die teuren Umschläge. Wahrscheinlich waren es die üblichen Briefe der Gäste, die sich für das gelungene Fest am Samstagabend bei ihrem Gastgeber bedanken wollten. Anselmo seufzte. Jedes Mal, wenn Cosimo seinen Kostümball veranstaltete, wurde ihnen ein paar Tage später die Post gleich säckeweise ins Haus getragen. Und da Cosimo nach einem derartigen Fest immer in tiefe Schwermut und Depressionen versank und die zahlreichen Dankesschreiben kaum beachtete, blieb es stets an ihm hängen, jeden einzelnen der Briefe zu beantworten. Früher, vor sehr vielen Jahren, war Anselmo so stolz darauf gewesen, die Kunst des Schreibens zu beherrschen, dass er sich mit Feuereifer auf jeden Brief gestürzt hatte, um dessen Beantwortung Cosimo ihn gebeten hatte. Inzwischen aber hatte das Schreiben für ihn schon lange den Reiz des Neuen verloren. Es war langweilig, lästig, zeitraubend , eine Pflicht, auf deren Erfüllung er liebend gern verzichtet hätte.
    Auch wenn er kaum einen Blick darauf werfen wird, ich werde ihm die Post trotzdem zeigen, dachte Anselmo, legte die Briefe in den Karton zurück und klemmte ihn sich unter den Arm. Vielleicht bringt es ihn auf andere Gedanken.
    Wie Anselmo es erwartet hatte, fand er Cosimo in der Bibliothek . Er saß vor dem Fenster in seinem Lieblingssessel und sah hinaus. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über die Dächer von Florenz. Es war eine Aussicht, die schon so manchen befreundeten Künstler und Fotografen restlos begeistert und zu wundervollen Arbeiten inspiriert hatte. Doch Anselmo hätte Wetten darauf abschließen können, dass Cosimo die Stadt in diesem Moment gar nicht sah – wenigstens nicht so, wie sich Florenz den Menschen
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