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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Elixier der Ewigkeit der Erweiterung der Weisheit dienen. Denn Gegenwart und Zukunft sind ohne eine Sicht der Vergangenheit oft nicht verständlich.«

I
    Jerusalem, 1530
    Noch wachte der Mond über die Sterne wie ein Hirte über seine Schafe. Doch hinter den Bergen begann allmählich die Sonne emporzusteigen, und sie schickte ihr goldenes Licht über die Wüste und die Stadt, die auf dem Berg thronte wie ein Juwel in der Krone eines Königs. Es war nicht irgendeine Stadt. Es war die Stadt, das weltliche Zentrum des Glaubens. Hier hatte einst der Tempel gestanden, in dem die Bundeslade aufbewahrt worden war. Hier hatten König David und König Salomon regiert. Hier würde auch das Jüngste Gericht über die Menschen kommen. Diese Stadt war die Himmlische , die Friedvolle , die Prächtige . Jerusalem.
    Auf der ganzen Welt gab es keinen schöneren Anblick.
    Das jedenfalls dachte der alte Meleachim. Langsam, bedächtig einen Schritt vor den anderen setzend, ging er die staubige Straße entlang den Hügeln hinunter und der Stadt entgegen . Bereits lange bevor der Mond seine Bahn vollendet hatte, war er von zu Hause aufgebrochen, dem kleinen Dorf mitten in den Bergen. Und nun, nach langer, beschwerlicher Wanderung , hatte er es geschafft. In einer Entfernung von nicht einmal einer halben Wegstunde erhoben sich vor ihm die mächtigen Mauern von Jerusalem.
    Meleachim blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn und die Tränen aus den Augen. Er war alt, schon über sechzig. Bereits als Knabe hatte er jede Woche seinen Vater , einen geschickten Töpfer, auf dem Weg zum Markt begleitet . Sein Vater war mittlerweile lange tot. Er war es jetzt, der die Schüsseln und Krüge herstellte und sie jeden Freitag zum Markt brachte. Seit über fünfzig Jahren ging er nun schon diesen Weg. Dennoch stiegen ihm beim Anblick der Tore Jerusalems jedes Mal erneut die Tränen in die Augen. Tränen der Freude über die Schönheit der Stadt. Tränen der Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Tempels – selbst wenn von seinen Mauern nur noch Reste geblieben waren. Und Tränen der Trauer über die seit Jahrhunderten währende Unterdrückung und Fremdherrschaft . Sie alle waren nach Jerusalem gekommen – erst die Babylonier, dann die Römer, die Christen und nun die Moslems . Und trotzdem war er sicher, dass eines Tages die Heilige Stadt wieder dem Volk der Juden gehören würde, dass eines Tages der Tempel wieder neu errichtet und die Bundeslade an ihren angestammten Platz zurückkehren würde. Selbst wenn es die Kindeskinder seiner Kindeskinder nicht mehr erleben sollten. Eines Tages würde es so weit sein. Und die ganze Welt würde staunen über die Macht und Herrlichkeit des Einzigen und Allmächtigen.
    Meleachim setzte seine Bündel ab. Die Tonkrüge und Schüsseln waren schwer, und ihr Gewicht drückte auf seinen Schultern . Es war noch früh am Tag, so früh, dass die Wachfeuer auf den Zinnen der Stadtmauern noch brannten. Im flackernden Schein der Feuer konnte er die Janitscharen erkennen, die auf den Mauern auf und ab gingen und vermutlich auf ihre Ablösung warteten. Ihre Gestalten hoben sich gegen den silbrigen Morgenhimmel ab, winzig klein aus dieser Entfernung und scheinbar harmlos wie Fliegen. Scheinbar. Denn tatsächlich waren die Janitscharen das Einzige, vor dem er sich jede Woche auf seinem Weg zum Markt fürchtete. Manchmal gefiel es ihnen, mit jenen, die wie Meleachim in die Stadt zum Markt wollten, ihren Spott zu treiben. Einmal hätte er sogar um Haaresbreite seine Waren verloren, als zwei von ihnen aus einer puren Laune heraus die Bündel mit den zerbrechlichen Töpfereien gegen die Stadtmauer schleudern wollten. Doch zum Glück war ihm rechtzeitig einer der Janitscharen zu Hilfe gekommen und hatte seine Kumpane davon abgehalten. Ja, viele der Janitscharen waren launisch und unberechenbar. Aber das war nicht immer so gewesen. In den Jahren nach der Eroberung Jerusalems durch den Sultan Suleiman waren sie freundlich und höflich gewesen. Vielleicht waren sie damals ebenso erleichtert wie das Volk, dass nach Jahren der Kämpfe und des Krieges endlich Ruhe und Frieden eingekehrt war. Doch mittlerweile waren sie nervös wie junge Pferde, die man zu lange am Pflock angebunden hatte. Sie waren Soldaten, der Sinn ihres Lebens bestand im Kampf. Aber inzwischen waren die fahrenden Händler und der allmählich einsetzende Verfall die schlimmsten Feinde, vor denen sie die Stadtmauern schützen mussten.
    Meleachim warf einen
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