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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Gottes, zu beten.«
    Rashid zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dieser Worte. Die Mäntel und Schuhe der Männer waren schmutzig und abgetragen, als wären sie bereits seit Monaten unterwegs. Schlaff hingen die großen ledernen Taschen von ihren Schultern . Und trotzdem spürte er dieses Kribbeln im Nacken. Ein Kribbeln, das ihn schon oft auf die richtige Fährte geführt hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden, sosehr sie auch wie gewöhnliche Pilger aussehen mochten. Er würde schon herausfinden, was es war.
    »Was tragt ihr bei euch?«, fragte er und deutete auf die Taschen .
    »Die Reste unserer kargen Mahlzeit, mein Sohn«, antwortete der Glatzköpfige in seiner betont sanften Art. »Wir würden sie gern mit dir teilen, wenn dir als Anhänger von Mohammed die Art der Speisen nicht aus Glaubensgründen verboten wäre. Außerdem tragen wir die Bibel bei uns, das Wort des lebendigen Gottes.«
    »Öffnet die Taschen.« Rashids Magengrube wurde warm. Dort spürte er den Zorn immer zuerst. Manchmal kam er so schnell und unerwartet über ihn wie ein Sandsturm. Diesmal jedoch spürte er genau, wie er sich langsam in ihm ausbreitete, kontrolliert und gebändigt von dem Gefühl der drohenden Gefahr.
    »Gern.«
    Der Glatzköpfige hörte nicht auf zu lächeln. Wenn er ein gewöhnlicher Pilger gewesen wäre, hätte er jetzt ängstlich oder wenigstens aufgeregt sein müssen. Die beiden waren Fremde, ihr Hebräisch war nicht fehlerlos. Wenn er selbst in einem fremden Land von den Stadtwachen angehalten und durchsucht worden wäre, hätte er sich auch mit einem reinen Gewissen Sorgen gemacht. Doch dieser Mann hier ließ weder Anzeichen von Furcht noch von Nervosität erkennen, nicht einmal Wut. Im Gegenteil. Seine hellbraunen Augen waren kalt. Das Kribbeln in Rashids Nacken wurde schier unerträglich.
    Um sich abzulenken, widmete er sich den Taschen. Der Beutel des Jüngeren war leer, abgesehen von einem Stück über dem Feuer geräucherten Fleisches und einem Kanten trockenen Brotes. In der Tasche des Glatzköpfigen hingegen hatte er mehr Glück. Er fand neben einem Buch in lateinischer Schrift eine Flasche aus geschliffenem Glas. Sie war mit Blei verschlossen und zum Schutz vor Stößen in ein Tuch aus purpurfarbener Wolle gewickelt. Purpur? Die Farbe der Könige? Wie kam ein einfacher Pilger in den Besitz eines derart kostbaren Stoffes – wenn er denn wirklich nichts als ein einfacher Pilger war.
    »Was ist das?«, fragte Rashid und zog die Flasche heraus. Die darin enthaltene Flüssigkeit funkelte im Licht der Sonne blutrot, und als er sie bewegte, tanzten leuchtende Punkte wie frische Blutflecken über die staubige Straße.
    »Wein, mein Sohn«, antwortete der Glatzköpfige mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme. Er lächelte immer noch, doch in seinen kalten Augen begann der Hass zu glühen. Der junge Pilger hingegen wurde bleich wie ein Laken.
    Nichts als Wein?, dachte Rashid und kämpfte gegen die Versuchung an, die Flasche gegen die Mauer zu schmettern, nur um herauszufinden, wie die beiden Pilger darauf reagieren würden. Mittlerweile hatte er ein Gefühl, als ob hunderte von Ameisen seine Wirbelsäule auf und ab liefen. Ob er die beiden Männer seinem Vorgesetzten zum Verhör bringen sollte?
    »He, Rashid, was gibt es?«
    Yussuf war aufgewacht. Er verließ seinen Posten auf der anderen Seite des Tores und kam zu ihm herüber.
    »Zwei Verdächtige«, erwiderte Rashid auf Arabisch in der Hoffnung, dass die beiden Christen die Sprache des Korans nicht verstanden. »Ich überlege gerade, ob der Meister der Suppenschüssel sich nicht mit ihnen befassen sollte.«
    Yussuf betrachtete die beiden Männer von oben bis unten. Dann schüttelte er belustigt den Kopf.
    »Wegen zwei Pilgern willst du den Meister der Suppenschüssel stören? Manchmal bist du wirklich verrückt, mein Freund. Es gibt wahrlich bessere Wege, sich die Langeweile hier am Tor zu vertreiben, als zwei harmlose Pilger anzuhalten und sich obendrein den Zorn des Meisters einzuhandeln.«
    Rashid antwortete nicht. Harmlos hatte Yussuf die beiden Männer genannt. Auch ihm selbst waren sie auf den ersten Blick ungefährlich erschienen. Aber waren sie das wirklich? Er runzelte die Stirn und starrte auf die Flasche in seinen Händen. Das durch die Flüssigkeit schimmernde Licht färbte seine Hände rot, sodass sie aussahen, als hätte er sie in Blut getaucht. Das sollte Wein sein? Er konnte das nicht glauben. Aber was war es dann? Blut? Ihm wurde
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