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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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daran gewöhnen müssen.«
    Der Mann, der den Namen Stefano trug, neigte ergeben den Kopf.
    »Wir sind da, Pater Giacomo«, sagte er langsam, als würde seiner Zunge der Umgang mit der hebräischen Sprache schwer fallen.
    »Ja, wir sind da«, sagte der andere. Seine Stimme klang wesentlich älter. »Lange sind wir unterwegs gewesen. Beschwerlich war der Weg, doch nun haben wir sie endlich erreicht. Jerusalem . Die Heilige Stadt. Der Ort, an dem unser Herr den Tod fand. Schon bald werden wir an Seinem Grab stehen, an jener Stelle, an welcher der Engel des Herrn den Jüngern die Kunde von der Auferstehung überbrachte. Wir werden dort beten und um die Kraft flehen, die wir brauchen werden, um hier unsere Aufgabe zu erfüllen.« Die Stimme war sanft und freundlich, und trotzdem lief Meleachim ein eiskalter Schauer über den Rücken. »Endlich ist die Zeit gekommen.«
    »Halleluja«, murmelte der junge Mann.
    »Heute ist der Tag, an dem sich das Ende der Herrschaft der Frevler über die heiligen Stätten nähert, an dem sich das Kreuz über Halbmond und Davidstern erhebt. Der Tag, an dem endlich der letzte Kreuzzug beginnt.«
    »Amen.«
    »Komm, Stefano«, sagte der ältere Mann und legte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter. »Lass uns durch die Tore schreiten und die Aufgabe beginnen, für die Gott, der Herr, uns auserwählt hat.«
    Die beiden Männer gingen weiter. Sie holten aus, als würden sie es kaum erwarten können, endlich die Stadtmauer zu erreichen und ihr Werk zu beginnen – was auch immer sie damit meinen mochten. Der letzte Kreuzzug.
    Meleachim zitterte am ganzen Leib. Er selbst hatte die Kreuzzüge nicht erlebt, nicht einmal sein Vater oder Großvater waren dabei gewesen – gottlob. Dennoch erinnerte er sich gut an all die Geschichten, die man sich immer noch erzählte, trotz der vielen Jahre, die seit den Kreuzzügen verstrichen waren . Geschichten von Rittern in schimmernden Rüstungen, von deren Bannern, Schwertern und Lanzen das Blut der erschlagenen Juden und Moslems in Strömen floss. Es waren Geschichten über unvorstellbare Grausamkeiten, über Ereignisse , die so schrecklich waren, dass man nur mit gesenkter Stimme von ihnen sprach, wenn es dunkel war, Türen und Fenster geschlossen waren und die Kinder bereits schliefen. Zum Glück gehörten diese Tage des Entsetzens der Vergangenheit an. Das hatte er wenigstens bisher geglaubt. Und nun kamen diese beiden Christen und sprachen von einem weiteren Kreuzzug. Vom letzten. Waren sie etwa Kundschafter eines Heeres, das hinter den Bergen auf die günstige Gelegenheit wartete, die Stadt zu überfallen?
    Meleachim biss sich auf die Lippe. Sollte er etwas tun? Sollte er zu den Janitscharen gehen und sie warnen? Sie auf die beiden Pilger aufmerksam machen? Und was dann? Würden die Soldaten ihm Glauben schenken, oder würden sie ihn nur verspotten und einen alten Narren schimpfen? Und selbst wenn sie ihm glauben wollten, er hatte die Gesichter der beiden Männer nicht gesehen. Er wusste nicht, woher sie kamen , er hatte ihre Sprache nicht erkannt. Er konnte nicht mehr über sie sagen, als dass sie Pilger waren, in staubige Reisemäntel gehüllt, Pilger, wie sie zu hunderten nach Jerusalem kamen. Die Wahrscheinlichkeit, sie im Gewühl der Menschen zu finden, war gering. Abgesehen davon war es möglich , dass er sich getäuscht hatte. Er war aus dem Schlaf geschreckt. Doch das Hebräisch der beiden Männer war keineswegs fehlerlos gewesen. Beide hatten einen mehr oder weniger starken Akzent gehabt.
    Meleachim fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die sich plötzlich so spröde anfühlten, als wäre er tagelang durch die Wüste geirrt. Mühsam erhob er sich, raffte seine Sachen zusammen und setzte seinen Weg fort. Je näher er dem Tor kam, umso mehr dachte er, dass er sich wohl geirrt hatte. Die beiden Männer hatten sich wahrscheinlich nur über die Kreuzzüge unterhalten. Vielleicht war einer ihrer Vorfahren auf einem der Kreuzzüge ums Leben gekommen. Und schließlich, als Meleachim das Tor erreicht und der dort stehende Janitschar ihn ungeduldig hindurchgewinkt hatte, war er fest davon überzeugt, dass er sich getäuscht hatte, dass das Gespräch, das er angeblich belauscht hatte, lediglich das Produkt eines wilden Traumes auf dem harten Boden unter dem Busch war. Vielleicht hatte er die beiden Pilger noch nicht einmal wirklich gesehen. Vielleicht waren sie selbst nichts anderes als Traumgestalten .
    Ich sollte diese Geschichte für mich
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