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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition)
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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pathogenen Verhaltens sind.«
    »Ich interessiere mich mehr für Ihre persönliche Einschätzung.«
    »Ob man jemanden wie den Kannibalen von Rotenburg jemals wieder auf die Menschheit loslassen kann?«
    »So in etwa.«
    Nora dachte eine Weile nach. Was wollte Schreyer von ihr hören? Was sie bisher zu dem Thema geäußert hatte, war lediglich die Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die sie unreflektiert übernommen hatte. Bisher hatte sie nicht genug Zeit gehabt, um sich eine fundierte Meinung zu bilden.
    »Ich denke, das kommt immer auf den Einzelfall an. Man muss die Betroffenen und ihr Umfeld genau durchleuchten. Ein vorschnelles Urteil ist in jedem Fall ein Fehlurteil.«
    Schreyer lächelte salomonisch. Dieses Mal lächelten seine Augen mit. »Sie würden eine gute Pressesprecherin abgeben.«
    Nora nahm das Kompliment hin. Aber anscheinend reichte ihm ihre Antwort nicht aus.
    »Abhängig von den Hintergründen der Straftat würde ich sagen: Wenn jemand Therapiewillen zeigt, behutsam auf die Freiheit vorbereitet und nach der Freilassung in das richtige Umfeld integriert wird sowie eine angemessene Betreuung erhält, ist eine erfolgreiche Wiedereingliederung möglich«, fuhr sie fort. »Und diese Maßnahmen dürften auch für den Staat kostengünstiger als eine jahrelange Sicherungsverwahrung sein.«
    Schreyer lächelte, offenbar zufrieden mit Noras Einstellung. Er wühlte in seinen Akten.
    »›Haidn gegen den deutschen Staat‹ – sagt Ihnen das etwas?«
    Nora hatte davon gehört. Der Insasse einer psychiatrischen Klinik in Bayreuth hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich gegen die nachträglich gegen ihn angeordnete Sicherungsverwahrung geklagt. Die Sache hatte 2011 für große Unruhe in der Adickesallee gesorgt. Man hatte laut darüber nachgedacht, die Abteilung für Kapitalverbrechen erheblich aufzustocken.
    »Wir haben drei Kandidaten in der JVA Schwalmstadt, die infrage kommen. Zweimal mehrfacher Mord, einmal pathologischer Betrug in Verbindung mit Freiheitsberaubung im Wiederholungsfall. Der Termin vor dem Haftrichter ist in vier Wochen. Wir brauchen drei Risikoprognosen.«
    »Macht das nicht üblicherweise ein Externer?«
    Für diese Art Gutachten wurde in der Regel ein unabhängiger Sachverständiger hinzugezogen, der Erfahrung mit der psychologischen Analyse rückfallgefährdeter Straftäter hatte. Jemand vom Format eines Universitätsprofessors.
    »In diesem Fall geht es nicht um die Beurteilung ›Sicherungsverwahrung: Ja oder Nein‹. Sondern um die Frage, wie die Kollegen vom Mobilen Einsatzkommando mit diesen Leuten umgehen sollen, sobald sie auf freiem Fuß sind. Diese Art Gutachten erstellen wir intern, das ist unkomplizierter.«
    Unkomplizierter, kontrollierbarer, billiger, dachte Nora.
    »Und was ist mit ZÜRS?« Die Zentralstelle zur Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter, kurz ZÜRS, war im Jahr 2008 genau zu diesem Zweck innerhalb der hessischen Polizei eingerichtet worden.
    »Allein in Hessen muss ZÜRS über hundertfünfzig Personen betreuen. Denen fehlen die Ressourcen für diese zusätzlichen Aufgaben. Außerdem«, Schreyer zauderte, »erscheinen mir die dortigen Kollegen sehr … konservativ.«
    Es war bekannt, dass die allermeisten ›Kunden‹ von ZÜRS in der intensivsten Überwachungsstufe landeten. Und je mehr Beamte ein Ehemaliger im Schlepptau hinter sich herzog, umso schwieriger gestaltete sich erfahrungsgemäß die Wiedereingliederung.
    Schreyer klappte die Akte zu und schob mit einem Ächzen drei Ordner über den Tisch. Nora stapelte die gewichtigen Dokumente auf ihrem Schoß.
    »Vier Wochen ist nicht das, was ich unter ›die Betroffenen und das Umfeld genau durchleuchten‹ verstehe.«
    »Ich mache die Terminvorgaben nicht. Ich versuche lediglich, sie einzuhalten.« Schreyer zuckte entschuldigend die Schultern. »Auftauchende Fragen besprechen Sie am besten direkt mit mir. Siggi wird Sie terminlich irgendwie reinquetschen.«
    Obwohl es vermutlich nett gemeint war, kam es genauso bei Nora an, wie Schreyer es gesagt hatte: irgendwie reinquetschen. Eine Politik der offenen Tür klang anders.
    »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer neuen Aufgabe.« Mit diesen Worten erhob sich Schreyer und streckte ihr die Hand entgegen. Das Gespräch war beendet. Als Nora den Raum verlassen wollte, hievte er den Laptop auf den Aktenberg. Ihre Arme schmerzten bereits von der Last.
    Während Nora das Vorzimmer durchquerte, würdigte
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