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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition)
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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geforderten Mindestgröße für Sicherungsverwahrte. Schrank, Schreibtisch, kein Fernseher oder Radio, ein Bett mit Wäsche aus verwaschenem Nickistoff. Ein Vogelkäfig mit einem blau-weißen Wellensittich, der sich ausgiebig putzte und – wenn man dem Schild, das am Käfig angebracht war, glauben durfte – Nero hieß. Ein Regal voller Bücher. Nora studierte die Buchrücken. Ovids Ars Amatoria . Caesars De Bello Gallico , kleine gelbe Reclamhefte mit abgegriffenem Einband. Andorra von Max Frisch. Ein Bildband mit Skizzen von Picasso. Ein Fotoalbum. Nora zog es heraus und blätterte darin. Lefebers Leben im Schnelldurchlauf. Babybilder in Schwarz-Weiß, ein bemütztes pausbäckiges Gesicht lugte aus einem altertümlichen Kinderwagen hervor, mit den beiden Grübchen unverkennbar Lefeber. Als Siebenjähriger im Freibad, fast weißblonde Haare, schulterlang, wie sie viele Kinder in den Siebzigern trugen. Ein stämmiger Junge mit der Andeutung kleiner Speckpolster, man ahnte, dass er als Erwachsener einmal Probleme mit seinem Gewicht haben würde.
    Die Studienzeit. Ein langer Gang, von dem mehrere Dutzend Türen abzweigten, junge Männer, die sich mit Bierflaschen zuprosteten, die Gesichter glänzend, die Blicke benebelt – das Studentenwohnheim, vielleicht während einer Party.
    Drei leere Seiten.
    Eine Überschrift: Klassenfahrt Florenz 1991.
    Ein Abschlussfoto: mehrere Reihen Schülerinnen und Schüler, elf, höchstens zwölf Jahre alt, umrahmt links und rechts von einem Lehrer und einer Lehrerin. Der Lehrer war Lefeber. Die Gesichter von zwei Schülern waren aus dem Foto fein säuberlich herausgetrennt.
    »Die Bilder der Opfer musste er entfernen, aufgrund einer richterlichen Verfügung der Eltern, nachdem die Presse durch einen Mithäftling Wind von dem Album bekommen hatte.«
    Nora fuhr erschrocken herum. Albrecht, der Doktor, der ihr die Tür des Haupteingangs aufgehalten hatte, hatte unbemerkt Lefebers Zelle betreten. Ihr Herz hämmerte wie wild.
    »Habe ich Sie erschreckt? Tut mir leid.« Lächelnd stellte Albrecht seinen Koffer auf den makellos aufgeräumten Schreibtisch und öffnete ihn.
    Nora klappte das Album zu und stellte es zurück an seinen Platz. »Sind Sie sein Arzt?«
    »Nein«, lachte Albrecht, »ich bin Neros Arzt.« Er öffnete die Käfigtür und griff den Vogel. Der Wellensittich erstarrte, seine Knopfaugen wirkten mit einem Mal stumpf und leer. Der Doktor betrachtete den Käfigvogel von allen Seiten, hob vorsichtig einen Flügel, spreizte mit Kennerblick die Federn. Nora konnte nicht umhin, die Zartheit zu bewundern, mit der Albrecht das Tier untersuchte.
    »Bezahlt Lefeber Sie dafür?«
    »Nein. Ich habe ihm und Heinz Rosen, einem anderen Sicherungsverwahrten, vor einigen Jahren Wellensittiche geschenkt. Dieser hier und sein Artgenosse im Käfig in der Nachbarzelle sind die Nachfolger. Ich behandle sie kostenlos.«
    »Und was veranlasst Sie zu dieser Großzügigkeit?«
    Albrecht blinzelte durch die Gitterstäbe in die Sonne. »Nach der Trennung von meiner Frau hatte ich viel Zeit. Zu viel Zeit zum Grübeln über verpasste Chancen. Ich wollte mich ablenken und etwas Sinnvolles tun. Damals sah ich eine Fernsehreportage über Sicherungsverwahrte in der JVA Schwalmstadt, in der Rosen davon sprach, dass er gerne ein Haustier hätte, die Kosten für eine tierärztliche Behandlung aber nicht aufbringen könne. Ich wohnte damals in der Nähe. Ein paar Tage später stand ich mit dem Vogelkäfig vor dem Tor.«
    »Und Lefeber?«
    »Den lernte ich durch Rosen kennen. Die beiden können ganz gut miteinander.«
    Das überraschte Nora. Vom Persönlichkeitsprofil her, das sie den Akten der beiden Männer entnommen hatte, konnten Lefeber und Rosen, Intelligenz und Charakter betreffend, nicht unterschiedlicher sein. Eine Männerfreundschaft zwischen den beiden war schwer vorstellbar. Aber das Leben schuf sich seine Verbindungslinien nicht nach Plan.
    »Sie kannten die beiden vorher nicht?«
    »Wie ich bereits sagte – nein.«
    »Und wie oft kommen Sie her?«
    »Einmal pro Woche.«
    »Brauchen die Tiere so viel ärztliche Zuwendung?«
    »Nein«, lachte Albrecht. »Lefeber, Rosen und ich mögen uns. Wir diskutieren, spielen Karten.«
    »Viel Engagement. Und das für zwei Männer, die …«
    »… so viel Leid angerichtet haben?« Albrecht sah Nora offen in die Augen. Sein Blick hatte etwas Verletzliches.
    »Jeder hat eine zweite Chance verdient. Oder etwa nicht?«
    Sein unverschämt direkter Blick. Das Prickeln
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