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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition)
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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die Sekretärin sie keines Blickes.
    Freitag, 4. Oktober
    Der Besucherparkplatz der JVA Schwalmstadt war überraschend gut gefüllt: Zwei Reisebusse, einer davon mit ostdeutschem Kennzeichen, eine dunkle Limousine mit Fahrer, der in der BILD blätterte, und ein gutes Dutzend Pkws, deren Embleme sie als Dienstfahrzeuge hessischer Radiosender oder Zeitungen auswiesen, machten es Nora nicht leicht, einen Platz für ihren dunkelgrünen Mini zu finden. Sie stellte den Motor ab, ließ ihren Blick über die abweisende dunkelgraue Klinkerfassade des Gebäudes wandern und stieg aus.
    Das Haupttor lag ein Stück entfernt an der Ostseite; es herrschte Stille, nur hin und wieder drangen laute, aufgeregte Stimmen herüber. Noras Absätze klapperten auf dem Asphalt. Vielleicht hätte sie doch lieber flache Schuhe anziehen sollen.
    Als sie um die Ecke bog, stockte ihr beim Anblick der Menschenmenge vor dem Eingang der Atem. Die Insassen der Busse – wie Nora annahm – hatten mit selbst gemachten Transparenten vor dem Tor Stellung bezogen und skandierten Kampfparolen. Todesstrafe für Kinderschänder stand auf einem Plakat, Wer schützt die Opfer? auf einem anderen; die bunten Buchstaben sahen aus wie mit Fingerfarben von Kinderhand gemalt. Entlang der Mauer hatte jemand Teelichter in einer langen Reihe auf den Boden gestellt, deren eine Hälfte bereits erloschen war, während die andere heftig flackerte.
    Fotografen und Kamerateams schoben Gruppen von Demonstranten vor sich her, auf der Suche nach dem idealen Hintergrund – darauf bedacht, mindestens einen der schwarz gewandeten Glatzköpfe ins Bild zu bekommen, die sich bemühten, unauffällig im Hintergrund zu agieren.
    Unter den Reportern entdeckte Nora ein bekanntes Gesicht: Martin Kanther. Er arbeitete in der Redaktion der Tageszeitung, die ihrem Vater gehörte, und sollte offensichtlich über die Aktion berichten. Er hatte mindestens zwanzig Kilo abgenommen und trug eine neue Brille, die seinem alten schwarzen Kunststoffgestell zwar sehr ähnlich sah, aber mit einem Markenlogo am Bügel protzte. Nerds waren offensichtlich wieder in Mode.
    Sobald er sie erblickte, steckte er den Notizblock ein und gesellte sich zu ihr.
    »Hallo, Nora. Besuchszeit ist von dreizehn bis siebzehn Uhr.«
    »Ich bin dienstlich hier.«
    »Das hatte ich fast vermutet.«
    Nora lächelte, den Teufel würde sie tun und Kanther den Grund ihres Besuchs mitteilen. »Worum geht es hier eigentlich?«, fragte sie stattdessen.
    Kanther sah sie verwundert an. »Drei gefährliche Schwerverbrecher sollen demnächst aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, weil unsere Justiz nach Meinung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Menschenwürde verstößt. Die rechte Szene nutzt das, um Werbung für sich zu machen.« Mit einem Seitenblick verwies er auf zwei grimmig dreinblickende Kahlköpfige, die ein weiteres Plakat entrollten.
    »Und ihr bietet ihnen die passende Plattform«, merkte Nora sarkastisch an und hob die Hand, als Kanther Einspruch erheben wollte. »Sorry, Martin, ich muss weiter, ich hab um zehn eine Besprechung.«
    »Du kannst mir nicht vielleicht einen kleinen Tipp geben, worum es dabei geht?«, rief er ihr hinterher.
    Das wirst du noch früh genug erfahren, dachte Nora und stieg über die Lichterkette hinweg.
    Kurz bevor sie die Pforte erreichte und den Klingelknopf betätigen konnte, schloss ein hagerer Schatten von rechts auf. Die Überwachungskamera über der Tür starrte auf jeden Besucher herunter wie ein Wasserspeier an einer Kirchenfassade. Der Summer ertönte und ein Arm schob sich an Nora vorbei, um die Tür aufzudrücken.
    Sie blickte verdutzt zur Seite. Der Mann, der ihr – ganz Gentleman – die Tür aufhielt, war etwas größer als sie und beinahe kahlköpfig, wenn auch auf attraktive Weise, ein etwas zu schmal geratener Bruce Willis. Sein Teint wies eine natürliche Bräune auf, wie jemand, der einen großen Teil des Tages an der frischen Luft verbringt; seine Züge waren asketisch, die Lippen schmal. Er mochte Ende vierzig, Anfang fünfzig sein. Seine blauen Augen blitzten, als er ihr den Vortritt ließ. »Nach Ihnen.«
    Nora bedankte sich und trat durch das Tor, gefolgt von ihrem Kavalier. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das künstliche Licht gewöhnt hatten. Das Eingangstor bestand aus massivem Stahl, die nächste Tageslichtquelle war weit entfernt. Links von ihr befand sich die Pförtnerloge, durch grün schimmerndes Panzerglas gesichert,
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