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Die Versuchung der Hoffnung

Die Versuchung der Hoffnung

Titel: Die Versuchung der Hoffnung
Autoren: Hannah Kaiser
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sein. Aber ab und an muss man schließlich auch mal ein bisschen Freude im Leben haben dürfen.
     
    Und tatsächlich ist der entsetzte Blick meiner Eltern unbezahlbar, als John ihnen später höflich die Hand schüttelt. Als ich in Mikes Gesicht blicke und er sich darüber offenbar ebenso köstlich amüsiert wie ich, muss ich mir auf die Zunge beißen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
    Das Essen schmeckt hervorragend, aber ich muss zugeben, dass es ein bisschen zu steif verläuft; vielleicht hätte ich meine Eltern doch nicht ganz so sehr überrumpeln sollen. Andererseits wäre es bestimmt auch nicht angenehmer geworden, wenn sich meine Mutter schon vorher tagelang hätte Gedanken darüber machen können, was es im Einzelnen bedeuten könnte, dass Jonathan ebenfalls hier ist, und sich in ihrem Kopf alle möglichen Horrorszenarien bis hin zu weiteren unerwarteten und außerehelichen Schwangerschaften hätte ausmalen können. In den Augen meiner streng katholischen Mutter ist dies eines der schlimmsten Vergehen, die ich mir je habe zuschulden kommen lassen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie wegen seiner außerehelichen Geburt jeden Abend um Samuels Seelenheil betet. Dass er immerhin ehelich gezeugt worden ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle und ich werde mich hüten, mich diesbezüglich mit ihr zu streiten. Mike und ich haben ohnehin seit Jahren die Theorie, dass sie nur unglücklich ist, wenn sie nichts hat, worüber sie sich Sorgen machen kann.
    Zum Glück sorgt Sam dafür, dass keine peinlich stillen Momente aufkommen, indem er fast das ganze Essen lang mehr oder weniger ununterbrochen darüber plappert, wie sehr er sich auch dieses Jahr auf die Tour in die kleine Berghütte von Mike und Val zum Schlittenfahren freut. Wir fahren dort jedes Jahr über Silvester zusammen hin, aber in diesem Jahr bleibe ich hier. Wegen Sams Krankenhausaufenthalt bin ich mit der Fertigstellung meines Manuskripts stark im Rückstand und eine ganze Woche Urlaub ist einfach nicht drin. Ich bin froh, wenn ich hier bleiben kann, um ungestört zu arbeiten. Sam freut sich furchtbar darauf, mit Valerie und Mike allein wegfahren zu dürfen und ich weiß, dass er bei den beiden gut aufgehoben ist. Auch wenn ich ein bisschen wehmütig bei dem Gedanken werde, dass mein Sohn ohne mich - und ich im Umkehrschluss auch ohne ihn - den Jahreswechsel verbringen wird.
     
    Wie jedes Jahr bin ich froh, als meine Eltern endlich wieder fahren, und auch Val und Mike verschwinden nach dem Essen zügig nach Hause. Wie selbstverständlich hilft John mir, den Tisch abzuräumen und das Chaos in der Küche zu beseitigen, während Sam im Wohnzimmer selbstvergessen mit seinen Geschenken spielt.
    Es fühlt sich gut an zwischen John und mir, vertraut und richtig. Vielleicht sollte mich das erschrecken, aber ich bin heute allzu weihnachtlich rührselig gestimmt. All meine bösen Energien habe ich verbraucht, um meine Mutter zu ärgern. Also genieße ich einfach, was da zwischen John und mir ist und zucke weder zurück, als er beim Einräumen der Teller versehentlich meine Hand streift, noch als er beim Befüllen der Spülmaschine absichtlich meine Taille umfasst, um mich zur Seite zu schieben. Ohnehin berührt er mich deutlich öfter, als es notwendig wäre. Ich ertappe mich dabei, mich extra langsam aus seinem Weg zu bewegen, um ihm Grund für mehr Berührungen zu geben.
    Als die Ordnung von Tisch und Küche schließlich beinah wiederhergestellt ist, ist es schon ziemlich spät geworden. Im Wohnzimmer ist es verdächtig still und als wir nachsehen gehen, liegt unser Sohn zwischen all seinen Geschenken auf dem Teppich und schläft tief und fest. Die kurze Nacht zuvor und der aufregende Tag heute haben ganz offensichtlich ihr Recht gefordert. Lächelnd trägt John ihn ins Bett und deckt ihn zu, was Sam lediglich mit einem zufriedenen Grunzen quittiert. Er wird nicht mal ansatzweise wach dabei. Kurz schaue ich zu, wie John unseren Sohn liebevoll zudeckt und ihm übers Haar streicht, bevor ich wieder in die Küche zurückgehe und die letzten Teller an ihren Platz räume
    Als John den Raum betritt, stehe ich mit dem Rücken zu ihm und schaue nachdenklich aus dem Fenster.
    „Es hat wieder zu schneien angefangen.“ Ich betrachte den immer stärker fallenden Schnee im milchigen Schein der Straßenlaternen. „Du solltest vielleicht heute besser noch hier bleiben.“ Meine Stimme klingt plötzlich rauer, als sie sollte.
    „Ja, das sollte ich wohl“,
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