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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie
Autoren: James A. Owen
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landete.
    Sie war so erschrocken über diese plötzliche Erscheinung, dass sie den erstbesten Gegenstand in ihrer Reichweite ergriff – eine Gipsbüste von Sigmund Freud – und das Huhn damit erschlug. Reumütig begrub sie es in einer abgelegenen Ecke auf dem Grundstück der Einrichtung und sprach dabei ein kurzes Gebet.
    Drei Tage später sprach sie ein noch kürzeres Gebet – ›Gütiger Gott im Himmel!‹ –, als unter einer der Toilettenkabinen im Waschraum der Kopf eines Huhnes hervorlugte und neugierig zu ihr herüberblickte. Sie verbrachte etwa eine Stunde damit, das Tier einzufangen, bis sie versehentlich auf einer schmalen Treppe stolperte und es unter ihrem recht üppigen Hinterteil zerquetschte.
    Sie begrub das Huhn, von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, dass es von einem der Bauernhöfe rund um das Gelände der Stiftung entlaufen war, in einem Loch neben dem ersten.
    Die dritte Hühnererscheinung ereignete sich mehrere Wochen später, so dass sie das Vorkommnis nicht sofort mit den ersten beiden in Verbindung brachte. Dieses Mal ließ sie das Huhn von zwei Pflegern einfangen, die das aufgebrachte Federvieh ins nächstgelegene Dorf brachten und es dort (jedenfalls dem Bericht in den Akten zufolge) einem dankbaren Kind zurückgaben, das das vermisste Haustier vergeblich gesucht hatte. In Wahrheit genossen es die Pfleger mit einer Zitronen-Pfeffer-Kruste, Vollkornbrötchen und einem guten Weißwein.
    Danach hatte das mysteriöse Eindringen von gefiederten Gästen in die Eidolon-Stiftung erst einmal ein Ende. Bis vor etwa vier Tagen das nächste Huhn aufgetaucht war.
    Eines, nicht mehrere.
    Zumindest am Anfang.
    Wie zuvor spazierte das Huhn in das Büro der Ärztin und landete auf ihrem Schreibtisch. Wie zuvor schlug sie nach ihm. Dieses Mal jedoch überlebte das Tier und sie sperrte es in eine Orangenkiste in der Küche. Eine Stunde später war es wieder da.
    Sie trug es in die Küche und hielt Ausschau nach einer zweiten Kiste, als ihr auffiel, dass die erste leer war. Keiner der wenigen Mitarbeiter schien etwas über das Tier zu wissen, selbst die beiden Pfleger nicht, die sich vergeblich mühten, den Korb mit Brötchen und Weißwein in der Schwesternstation zu verstecken. So nahm sie also an, das Huhn sei lediglich entflohen, setzte es wieder in die Kiste und gab sicherheitshalber einer der Krankenschwestern den Auftrag, es im Auge zu behalten.
    Zwanzig Minuten später kam die verblüffte Schwester in ihr Büro und behauptete, das Huhn sei vor ihren Augen verschwunden. Die Ärztin war erst bereit, dieser Erklärung Glauben zu schenken, als der Vogel sechzig Sekunden später unbekümmert in ihr Büro spazierte und sich auf dem vertrauten Platz auf ihrem Schreibtisch niederließ.
    Die Krankenschwester geriet in Panik, schlug mit einem Klemmbrett nach dem Tier und trennte ihm fein säuberlich den Kopf vom Rumpf. Sie schrie auf und stürzte aus dem Zimmer, während die Ärztin die nächsten Minuten damit verbrachte, den kopflosen Vogel einzufangen, der umherlief und hellrote Rorschach-Muster über seine Umgebung versprühte.
    Als das Tier schließlich zusammenbrach, folgte die Ärztin einer Eingebung und verstaute den Kadaver in einer Kiste, die sie genau in die Mitte ihres Schreibtisches stellte. Innerhalb einer Stunde war der Kadaver verschwunden.
    Wenige Minuten später marschierte das Huhn – ohne Kopf – erneut in ihr Büro und lief mit verständlichen Schwierigkeiten auf ihren Schreibtisch zu.
     

     
    Zunächst war die Ärztin der Meinung, das Ereignis sei metaphysischen Ursprungs. Möglicherweise war das Huhn ein Geist, der wieder und wieder von den Toten zurückkehrte. Damit ließe sich das Auftauchen und Verschwinden erklären. Diese Theorie erklärte jedoch nicht den offenbar materiellen Körper des Vogels, der noch immer vor Leben zuckte, oder die Tatsache, dass sie später an jenem Tag den Kopf des Huhns am Boden ihres Papierkorbs fand – fünf Minuten nachdem sie den zweiten, frischeren Kopf im Korridor gefunden hatte und eine Stunde bevor sie den dritten Kopf in der Küche finden sollte, den vierten im Waschraum und den fünften, sechsten, siebten und achten in dem von Mauern umgebenen Garten hinter dem Bürogebäude.
    Am nächsten Tag wurde es noch schlimmer, als ein zweites kopfloses Huhn ihr Büro betrat und sich dem ersten anschloss, gefolgt von einem dritten und vierten. Erst da, als sie mehrere Kadaver miteinander vergleichen konnte, fiel ihr auf, dass es sich in
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