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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie
Autoren: James A. Owen
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erinnerte er sich an einen anderen Regentag, in Bayreuth vor vielen Jahren – oder in einigen Jahren, je nachdem, wie man es betrachtete. Es war im Herbst gewesen statt im Frühjahr und an einem ähnlich atemberaubenden Ort, auch wenn das Bayreuther Festspielhaus zugegebenermaßen der Erhabenheit der südafrikanischen Küste nicht das Wasser reichen konnte. So bedeutend dieses Ereignis gewesen sein mochte – Ort und Zeitpunkt der Ersten Offenbarung –, war es ihm doch interessanterweise seit Jahrzehnten nicht mehr in den Sinn gekommen. Erst der eigentümliche Geruch des Regens, der sacht um ihn herum niederging, an diesem – wie er hoffte – gleichermaßen bedeutsamen Ort, hatte es ihm ins Gedächtnis zurückgerufen.
    Erneut zog er das Gerät aus der Tasche und warf einen Blick auf die Anzeige: noch sechzehn Sekunden, bis es so weit war. Dies war die längste Schlaufe, die er jemals aufgezeichnet hatte. In wenigen Sekunden würde er wissen, ob seine Bemühungen erfolgreich gewesen waren. Er hoffte es. Beinahe vier Jahrhunderte des Springens hatten ihren Tribut gefordert, und er fragte sich, ob ihm nicht ein Urlaub gut tun würde. Er erinnerte sich allerdings, dass zahlreiche jüngere Versionen seiner selbst das Gleiche gedacht und es nie ernsthaft in Betracht gezogen hatten, obwohl es ratsam gewesen wäre. Er nahm sich vor, es ihnen gegenüber zur Sprache zu bringen, sollten sich ihre Schlaufen demnächst mit den seinen kreuzen.
    Zehn Sekunden. Er bemerkte, dass seine Hände unwillkürlich zitterten, und steckte sie in den wärmenden Überwurf. Fünf Sekunden. Die vom Regen gesprenkelten Wellen, die sanft an das Ufer plätscherten, verharrten in ihrer Bewegung. Sein Puls beschleunigte sich. Vier. Hinter einem Schleier aus Wolken und feuchter Luft wandelte die Sonne unvermittelt ihre Farbe von frühlingshaftem Rot zu zartem Violett. Drei, und die Luft selbst schien erwartungsvoll zu schimmern.
    Zwei. Das Universum hielt den Atem an.
    Eins.
     

     
    Ein Spiegel fiel herab.
    Ein Spiegel, der so weit war wie der Himmel, senkte sich auf den alten Mann nieder. Er umhüllte ihn und verwandelte seine Umgebung in eine nahtlose Spiegelfläche. Der Himmel wurde zur Brandung und die Brandung zum Himmel. Der Boden unter seinen Füßen war nicht fester als die Luft, die den Wandel der Schöpfung in seine Lungen einbrannte. Es hatte aufgehört zu regnen, und um ihn herum tanzten und wirbelten Gestalten, verwischt vom Wind der Zeit. Menschen. Da waren Menschen. Die Schlaufe führte vorwärts, nicht rückwärts. Wie eine Porzellanfigur in einer Glaskugel atmete der alte Mann aus und bemerkte erst da, dass er die Luft angehalten hatte.
    Nachdem er einige Augenblicke lang seine Lage bedacht und zögernd eine Hand ausgestreckt hatte, war er überzeugt, dass es sich um eine tatsächliche Umkehrung handelte und nicht um eine, die lediglich einen Blick in eine fremde Zeit gestattet hätte. Seine Finger berührten die Vision wie die Beine eines Insekts, die auf die Oberfläche eines Teiches drückten. Dann, mit stärkerem Druck, schob er sie hindurch.
    Mit einem Donnerschlag wurde er nach vorn gerissen und stürzte Hals über Kopf auf den unebenen Boden. Ein Übergang war alles andere als einfach, aber immer noch besser als ein direkter Sprung.
    Er schüttelte den Kopf, um ihn von den Nachwirkungen der Reise zu befreien, und blickte in die Wolken unter ihm, in denen sich das Wasser über ihm widerspiegelte. Darin gewahrte er ein großes, verzerrtes Gesicht, das auf ihn herabblickte. Der alte Mann fragte sich, ob er in das Antlitz Gottes sah.
    Einen Augenblick später wurde ihm bewusst, dass das Gesicht sein eigenes war.
    Die Spiegelungen, die ihn umgaben, verwandelten sich in greifbare Realität, und als er dies bemerkte, verschwand die südafrikanische Küste in den Wellen von Zeit und Raum. Die geschwungenen Dünen hatten zerklüfteten, felsigen Gestaden Platz gemacht, der Frühlingsnachmittag einer trockenen Sommernacht. Der alte Mann kannte diesen Ort, und als er sich selbst sah, wusste er auch, in welcher Zeit er sich befand. Er spuckte aus und fluchte innerlich. Die Schlaufe war eine Sackgasse.
    Die kleine griechische Insel unterschied sich von den anderen Inseln des Archipels lediglich durch die Tatsache, dass man sie nur für einen einzigen Zweck nutzte. Hier wurde kein Getreide angebaut, kein Vieh aufgezogen. Nur ein einziger verkrümmter Baum stand auf ihrer grauen Landmasse, und dort fand das Ritual statt.
    Er blickte in
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