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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen
Autoren: Ursula Poznanski
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zwei der Kinder, die durch meine Hände gingen, mussten später umgesiedelt werden.
    Das schreiende Mädchen geht mir nicht aus dem Kopf. Seine wütende Verzweiflung, seine Einsamkeit.
    Nur die Ruhe, sage ich mir. Du hast für sie getan, was du konntest. Sie wird es warm haben und nicht hungern, und wenn sie begabt ist, wird sie die gleichen Chancen haben wie ein Vitro. Aus Kindern, die vom Sphärenbund aufgezogen werden, wird das Beste herausgeholt.
    Und außerdem, versuche ich mich zu beruhigen, hast du sie zu Baja geschickt, die sie lieben und verwöhnen und sie gleichzeitig fördern wird. So wie sie es bei dir getan hat.
    Auch dieser Gedanke sticht. Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, dass es Sehnsucht ist. Nach der Sphäre meiner Kindheit, dem Geruch der Küche, des Studierzimmers, der frischen Bettwäsche. Nach Baja. Wenn ich könnte, würde ich mit dem sechs Monate alten Mädchen tauschen.
     
    Vor der Auffangstation sitzt Tomma auf dem Mäuerchen, das den Gehweg von den Schienen für die Transportkarren trennt. Es hat ganz den Anschein, als würde sie auf mich warten.
    »Sie haben mich für heute freigestellt«, erklärt sie.
    Beim Näherkommen bemerke ich ihre geschwollenen Lider und die roten Äderchen im Weiß ihrer Augen. Sie muss geweint haben. Ihre Nase läuft noch immer.
    »Was ist passiert?«
    »Nichts. Ich … ich muss mich beim letzten Außengang erkältet haben«, murmelt sie und hustet ein wenig, als wollte sie mir etwas beweisen.
    Ich setze mich neben sie. Lege einen Arm um ihre Schultern, die sofort zu beben beginnen.
    »Nachdem du weg warst, haben wir weitergearbeitet. Es lief wunderbar, die Analyseergebnisse waren so vielversprechend, der Weißkohl wird so gut wie noch nie.«
    Wenn Tomma das sagt, kann man die Hand dafür ins Feuer legen. Sie kann aus Pflanzen lesen wie ich aus Menschen.
    »Aber dann …« Sie senkt den Blick. »Dann dachte ich, ich sehe Lu. Links, bei den Tomatenstauden. Ich wollte auf sie zulaufen, da hat sie sich umgedreht und … es war bloß ein Mädchen, das ihr von hinten ähnlich sah. Ich … ich habe zu weinen begonnen. Einfach so. Konnte nicht mehr aufhören.« Ein Tropfen fällt auf ihre Hose, malt einen dunkelgrünen Punkt auf den hellgrünen Stoff. Grün, das wir alle tragen, um an das fruchtbare Land zu erinnern, das es nicht mehr gibt. Ich drücke sie fester an mich.
    »Was, glaubst du, haben sie mit ihr gemacht?« Die Tränen fallen weiter, doch ihre Stimme klingt klar.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wieso sagt uns niemand etwas? Wenn wir wenigstens wüssten, welcher Clan sie getötet hat!«
    Daraus würden wir einiges schließen können, aber vielleicht ist es besser, wenn wir es nicht wissen. So schlafen wir ruhiger.
    Als ich klein war, erzählten die älteren Kinder uns nachts Geschichten über die Clans und Stämme, um uns Albträume zu bescheren. Dass die Nachtläufer die Zähne ihrer getöteten Feinde in alte Rohre füllen und auf diese Weise Rasseln bauen, die sie für ihre Kriegsrituale verwenden. Dass die Weißen Greifer sich in Schneehöhlen verbergen, verirrte Wanderer zu sich hinabzerren und ersticken. Dass der Clan Schwarzdorn seine Kinder nackt durch Dornenhecken treibt und nur die Überlebenden großzieht. Über die Schlitzer wurde nichts erzählt – da genügte schon die Erwähnung des Namens, um uns alle in Tränen ausbrechen zu lassen.
    Wenn wir am nächsten Tag zu unseren Zieheltern liefen und uns beklagten, dann trösteten sie uns, doch kein einziges Mal bezeichneten sie das Erzählte als Unsinn. Nicht einmal Baja. Sie knöpfte sich die Größeren zwar vor, doch über die Geschichten verlor sie kein Wort.
    »Sie haben die Särge nicht geöffnet«, flüstert Tomma, »damit wir nicht sehen, dass ihnen die Zähne und die Ohren fehlen. Oder dass sie … zerquetscht wurden.« An ihrer Hand klebt noch Erde, die sie nun im Gesicht verschmiert, als sie sich die Tränen von den Wangen wischt. »Es gibt einen Clan im Osten, der mit schweren Steinen … mit großen Steinen Menschen zerdrückt, als wären sie Schaben.«
    »Unsinn«, entgegne ich energisch. Wäre unsere Expedition ihnen zum Opfer gefallen, hätte nicht nur ein leerer Sarg auf dem Podium gestanden, sondern drei. Das behalte ich jedoch für mich.
    »Ich bin sicher, sie sind schnell gestorben«, versuche ich, sie zu beruhigen. »Sonst hätten die Sentinel noch eingreifen können. Der Überfall muss überraschend gekommen und in wenigen Sekunden vorbei gewesen sein.«
    Tomma glaubt mir,
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