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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin
Autoren: J. T. Geissinger
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riss den elektrischen Viehtreiber an sich, den Nathaniel dort hingelegt hatte. Dann kam er mit steifen Schritten wieder auf Morgan zu und hielt ihr das Gerät vors Gesicht – wie ein Löwenbändiger, der sein Raubtier mit einer Peitsche zur Unterwerfung zwingen will.
    Sie wusste, dass er es angeschaltet hatte, ehe er es in ihre Schulter rammte. Der Stromschlag, der sie wie ein heißer Speer durchbohrte und den Raum in einen rot-weißen Sternenregen verwandelte, ehe er schwarz wurde, bestätigte ihre Befürchtung.
    Zumindest hatte sie noch Zeit, ihn am Handgelenk zu packen, ehe sie ohnmächtig wurde.
    Es würde bald regnen.
    Jenna spürte es in den Knochen, obwohl der Himmel, den sie durch die hohen Fenster der Ostbibliothek sah, noch immer ein perfektes, wolkenloses Blau zeigte. Es war der dumpfe Druck in ihrer Brust, der den aufkommenden Sturm vorausahnen ließ – genauso wie früher ein plötzliches Zusammenkrampfen ihres Magens ein bevorstehendes Erdbeben, der bittere Geschmack auf ihrer Zunge Schneefall und der seltene Schmerz hinter ihrem rechten Auge – den sie nur einmal erlebt hatte, als sie als Kind auf einer der kleineren hawaiianischen Inseln lebte – einen Vulkanausbruch angedeutet hatte. Wirbelstürme verursachten hingegen eine Migräne, die so wild und erbarmungslos wie der Sturm selbst war.
    Du wirst den Herzschlag der Erde spüren, hatte ein kluger Mann vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt. Und er hatte recht gehabt. Ikati zu sein bedeutete, am Leben teilzuhaben und die Symphonie der Natur so deutlich zu hören, wie es kein anderes Wesen auf dieser Erde tat.
    Hinter ihr lief dieser kluge Mann unruhig über den Marmorboden und die handgewebten orientalischen Teppiche. Er war dabei so still, wie das nur ein nachtjagendes Tier sein konnte.
    »Du hast mir nichts gesagt«, warf er ihr sanft vor. Seine Stimme klang leise und leicht belustigt.
    Sie drehte ihm weiterhin den Rücken zu und blickte aus dem Fenster. »Ich habe es selbst bis heute Morgen nicht gewusst«, erwiderte sie. Und das entsprach der Wahrheit.
    Seit Wochen hatte sie sich vor diesem Tag gefürchtet. Immer und immer wieder hatte sie überlegt und sich Szenarien ausgemalt – entschlossen wie eine Termite, die sich durch Holz frisst. Was sollte sie tun? Denn sie musste etwas tun, das war offensichtlich. Sie würde nicht nur dasitzen und Morgan sterben lassen. Aber was war die Lösung?
    Was?
    Aus diesem Dilemma schien es keinen Ausweg zu geben. Eine Begnadigung kam nicht infrage. Eine Hinrichtung ebensowenig. Auch eine lebenslange Gefängnisstrafe war keine Option, denn sie wusste, dass das für jemand wie Morgan, die so freiheitsliebend und stolz war, schlimmer als der Tod wäre.
    Aber Morgans Verrat hatte Jenna bis ins Mark getroffen – sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinn. Und Leanders Schwester Daria befand sich noch immer in einem schrecklichen Zustand und würde vermutlich ihr Leben lang entstellt bleiben.
    Andererseits ließ es sich nicht leugnen, dass Jenna, so wütend, verraten und verletzt sie auch war, sehr gut verstand, warum sich Morgan so verhalten hatte. Und dieses Verständnis brachte sie wieder an den Ausgangspunkt zurück: Wie sollte Morgan für ihre Tat bestraft werden?
    Sie war erst auf eine Antwort gekommen, als sie eines der großen Ölgemälde in der Galerie der Alphas angestarrt hatte. Beinahe jeden Tag war sie hierhergekommen, angezogen von einer Mischung aus Neugier, Nostalgie und dem schwachen, quälenden Gefühl, dass sie etwas Wesentliches übersehen hatte. Es war ein sehr sorgfältig und genau ausgeführtes Porträt eines attraktiven Mannes mit einem markanten Kinn und einer hohen Stirn, der düster und ohne zu lächeln den Betrachter ansah. Seine leuchtend grünen Augen starrten von der Leinwand herab, genauso ungezähmt und klug wie ihre eigenen.
    Denn es waren ihre Augen. Es war das Porträt ihres Vaters.
    Auch er hatte das Gesetz der Ikati gebrochen und hatte den höchsten Preis dafür gezahlt.
    »In gewisser Weise erinnert sie mich an meinen Vater«, erklärte Jenna jetzt laut, während sie einen Schwarm von Schwalben beobachtete, der über die Bäume vor den Fenstern segelte. Die Vögel erhoben sich wie Blitze aus Quecksilber und verschwanden blitzschnell im weißen Himmel.
    »Wirklich?« Leanders gemurmelte Antwort klang ironisch und überhaupt nicht wie eine Frage. Einen Moment lang blieb er stehen, ging dann aber weiter auf und ab.
    Sie wandte sich ihm zu. Der Taft und der Satin
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