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Die verlorene Kolonie

Die verlorene Kolonie

Titel: Die verlorene Kolonie
Autoren: Anette Strohmeyer
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fragte mich zu dem Gebäude der Geowissenschaften durch. Dort stellte ich unter belustigten Blicken der St.-Johns-Snobs mein Fahrrad ab und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Ich klopfte an der Tür mit dem Namensschild „Charles Dudley“, und eine krächzende Stimme rief mich herein.
    Der Freund meines Vaters hockte inmitten eines Wusts aus Unterlagen und Papieren. Ordner und Bücher stapelten sich auf jeder Ablagefläche des Büros zu schiefen Türmen. Es sah aus, als schwimme Mr. Dudley in einem prähistorischen Riff aus Papier.
    Wohl noch nichts von digitaler Datenverarbeitung gehört , dachte ich und verkniff mir ein Schmunzeln. An sämtlichen Fakultäten des Queens College gab es seit dem Paperstop-Gesetz keine cellulosehaltigen Materialen mehr. Man gab einfach alles direkt in sein persönliches iD ein, das sich dann drahtlos mit dem Universitäts-Serververband vernetzte. Dort wurde alles gespeichert und war zu jeder Zeit für jedermann mit dem iD abrufbar. Adieu Drucker, adieu Papier.
    Das Büro von Mr. Dudley hingegen war wie eine Zeitreise. Kaum vorstellbar, dass Behörden und Administrationen vor zwanzig Jahren noch so ausgesehen hatten.
    „Ah, Junge, komm herein“, sagte der alte Kauz und ich betrat das vollgestopfte Zimmer. Von Dads Erzählungen wusste ich, dass er Dudley bei einer Recherche zu einem Artikel für das New York Magazine kennengelernt hatte, für das er damals vor seinem Unfall gearbeitet hatte. Über die Zusammenarbeit waren sie zu Freunden geworden.
    „Was kann ich für dich tun, Jerry?“, fragte Dudley und erhob sich aus dem Meer von Papier. Er sah aus wie ein runzelig gewordener Karpfen mit weißem Haarkranz und dicken Brillengläsern.
    Ich öffnete meinen Rucksack und zog die Proben heraus, die ich zu Hause vorbereitet hatte, damit ich die empfindlichen Dokumente nicht ständig mit mir herumschleppen oder dämliche Fragen darüber beantworten musste. Das Schriftstück selbst hatte ich in eine Plastikhülle eigenpackt und in meinem Gitarrenkoffer versteckt. „Mr. Dudley, ich habe hier Materialproben einer alten Handschrift und der dazugehörigen Seekarte. Für meine Bachelor-Arbeit müsste ich wissen, wie alt das Papier ist.“
    Der Scientific Assistant nahm die kleinen Plastiktütchen an sich, schob seine Brille auf die Stirn und betrachtete den Inhalt.
    Ich räusperte mich. „Ähm, und es wäre sehr schön, wenn es schnell ginge.“
    Dudley sah auf. In seinen grauen Augen lag Belustigung. Er schob seine Brille wieder runter und seine Lippen verzogen sich zu einem mitleidigen Lächeln. „Die Liste ist bis Juli voll, Söhnchen, das Gerät ist ausgebucht. Ich kann dich erst im August reinnehmen.“
    Verlegen trat ich von einem Bein aufs andere. „Ja, das habe ich mir schon gedacht. So ein Mist! Wissen Sie, ich habe die Dokumente erst vor kurzem entdeckt und sie haben sich als enorm wichtig für meine Bachelor-Arbeit herausgestellt. Ich hatte vor, sie im Mai fertig zu haben. Wenn ich das Ergebnis aber erst im August bekomme, dann … ach, es sollte eine Überraschung zu Dads Geburtstag sein. Er hätte sich sicher gefreut.“
    Mr. Dudley senkte seine buschigen Augenbrauen.
    „Was soll’s“, sagte ich enttäuscht. „Tragen Sie mich auf der Liste ein. Dann dauert es eben ein paar Monate länger.“ Ich seufzte und ließ den Kopf hängen.
    Mr. Dudley wischte einige Blätter auf seinem Schreibtisch zur Seite und holte ein altmodisches Klemmbrett hervor, auf dem sich augenscheinlich die Liste befand. Nachdenklich studierte er die Einträge, wobei er wieder die Brille hochschob. Dann schnalzte er mit der Zunge. „Also, ich könnte den Termin mit der Bodenprobe nach hinten verschieben. Die ist von einem Doktoranden hier von der Uni. Im Gegensatz zu den Jungs vom American Museum of National History kann der warten.“ Dudley zwinkerte mir mit einem Auge zu. „Komm morgen wieder. Ich lasse die Proben heute Nacht durchlaufen.“
    „Mr. Dudley, das ist großartig“, jubelte ich. „Vielen Dank! Dafür werde ich Sie auch in meiner Danksagung erwähnen.“
    Der alte Scientific Assistant lächelte. Die Brille rutsche wieder vor die Augen. „Danksagungen sind mir nicht so wichtig, Junge.“ Er streckte mir eine Hand hin. „So, und jetzt muss ich wieder an meine Arbeit. Morgen Nachmittag nach vier hast du dein Ergebnis.“
    Ich ergriff die Hand und bedankte mich nochmals. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht verließ ich das Büro. Mein iD piepte und ich sah auf das Display.
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