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Die verlorene Kolonie

Die verlorene Kolonie

Titel: Die verlorene Kolonie
Autoren: Anette Strohmeyer
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Mühe gehabt, mich kleinen Wirbelwind unter Kontrolle zu halten. Ich lächelte bei dem Gedanken an die gute, alte Selma. Sie war das Herz unseres Hauses, erledigte den Haushalt und kochte für uns. Vegetarisch, versteht sich. Sie kam immer morgens zum Frühstück und verließ uns nach dem Abendessen. Seit nunmehr zwanzig Jahren schon. Sie ging auf die Achtzig zu und Dad hatte ihr nahegelegt, doch in ihren wohlverdienten Ruhestand zu gehen, aber sie hatte mit ihrem für sie typisch mütterlichen Lächeln abgelehnt. Der Haushalt bräuchte eine Frauenhand und Jerry, also ich, jemanden, der mir Manieren beibringt. Das klang streng, war aber lieb gemeint. Selma war ein herzensguter Mensch und ein Teil unserer kleinen Familie. Aber sie wohnte nicht bei uns, sondern ein paar Straßen weiter in einer Mietswohnung. Sie kam jeden Morgen mit ihrem elektrischen Caddy zu uns herübergefahren, obwohl sie noch recht fit auf den Beinen war. Aber sie wollte solch lange Strecken nicht mehr zu Fuß gehen, erst recht nicht, wenn in der Wettervorhersage Atmosphäre III angesagt war: Regen.
    Ich stellte das Fahrrad in die Garage mit der kleinen Werkstatt, in der ich in meiner Freizeit an meinem Drahtesel herum schraubte, und ging durch die Verbindungstür in das Haus. Alles war dunkel. Mein Vater war wohl schon zu Bett gegangen. Leise zog ich mir die Schuhe aus, legte den Helm auf die Garderobe und schlich auf Zehenspitzen die Treppe nach oben, wo sich mein Zimmer befand. Eine Diele knackte unter meinen Füßen und ich lauschte kurz. Aus dem Schlafzimmer meines Vaters drang das übliche Gemurmel, was der Beweis dafür war, dass er tatsächlich schlief. Er redete nämlich fast jede Nacht im Schlaf. Immer dasselbe Zeugs. Als Kind habe ich mich davor gefürchtet und bin regelmäßig aufgewacht, wenn er meinen Namen rief. Heute macht es mir keine Angst mehr.
    „Jerry!“, hörte ich ihn auch jetzt wieder rufen. Die Tür dämpfte seine Stimme, aber ich wusste auch so, was er gleich sagen würde.
    „Jerry! Diese Stadt ist wahnsinnig! Keiner glaubt mir. Jerry! NEIN! Nicht die Rutsche runterrutschen! Geh da weg. Ich muss zurück zum Hotel. Ich muss ihn finden! Das Olympic Regent. Dort ist es … dort ist es …“
    Ich wandte mich ab und ging in mein Zimmer. Ich hatte Dad schon oft darauf angesprochen, aber er konnte sich nie daran erinnern, dass er im Schlaf gesprochen hatte, geschweige denn an den Inhalt seines nächtlichen Monologs. Vielleicht hatte es mit dem Autounfall zu tun, den er damals gehabt hatte, bevor Selma zu uns gekommen war. Dad sprach nicht gern darüber, wohl weil er sich nicht an den Unfallhergang erinnern konnte oder an das, was davor geschehen war. Noch so eine ungereimte Geschichte unserer Familie. Die Chronik der Benchleys war voll davon, aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
    Ich verstaute den Rucksack mit der kostbaren Fracht im Kleiderschrank hinter meinem Gitarrenkoffer, zog mich aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Mit der wohlig warmen Erinnerung an Addys Hand in der meinen schlief ich ein.

- 2 -

    Am nächsten Tag radelte ich nicht zum Queens College, sondern zur benachbarten und verfeindeten St. Johns Universität, an der die privilegierten Kinder dieses Landes zur zukünftigen Elite ausgebildet wurden. Wir hassten diese Uni, und die St.-Johns-Studenten hassten uns. Es war eine traditionelle Feindschaft, die im jährlichen Baseballderby gipfelte. Aber letzten Sommer haben wir es ihnen gezeigt. Da gewannen die Queens Knights mit einem Home Run von Benjamin Greenstein das Spiel gegen die St. Johns Red Storms. Seitdem war Ben so etwas wie der Held des College und ich mächtig stolz auf meinen Freund. Aber ich schweife schon wieder ab. Der eigentliche Grund für meinen Besuch beim Feind war die geowissenschaftliche Abteilung der Universität, oder besser gesagt, die Mutter aller Messgeräte: das Massenspektrometer! Und zufällig kannte ich denjenigen, der für die Einteilung der Messungen an diesem Gerät zuständig war. Es war ein guter Freund meines Vaters. Er arbeitete als technischer Mitarbeiter in dem Labor, das neben chemischen Analysen auch die C14-Altersdatierung für die Forscher des renommierten American Museum of National History durchführte. Aber was für die gut war, konnte auch ein kleiner Geschichtsstudent aus Queens gut gebrauchen. Dem Gerät war es schließlich egal, ob es um vierzigtausend Jahre ging oder, wie in meinem Fall, um vierhundert.
    Ich erreichte den weitläufigen Campus und
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