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Die verborgene Seite des Mondes

Die verborgene Seite des Mondes

Titel: Die verborgene Seite des Mondes
Autoren: Antje Babendererde
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sich gestritten hatten, dann meist deshalb, weil Hanna etwas an John auszusetzen hatte. Er dagegen hatte ihr nie Vorwürfe gemacht oder sie gebeten, ihm zuliebe eine andere zu werden. Julia war oft darüber erstaunt gewesen, wie ihr Vater ihre Mutter ertragen konnte.
    Seit dem Unfall hatte jeder auf seine Weise versucht, mit dem Schmerz fertig zu werden. Hanna hatte Julia in Ruhe gelassen, darü ber war sie froh gewesen.
    Sie setzte sich ans andere Ende der Couch, weit genug weg von ih rer Mutter, und betrachtete sie. Hanna war klein und zierlich, aber immer voller Energie und Selbstbewusstsein gewesen. All die Jahre hatte sie hart gearbeitet und die Familie ernährt, während John zu Hause geblieben war, Bilder gemalt und sich um Julia gekümmert hatte. Jetzt sah Hanna blass und zerbrechlich aus. Für einen Augen blick spürte Julia Mitleid mit ihrer Mutter, das bisher in ihrem dunk len Kummer keinen Platz gefunden hatte.
    »Ich habe mit deinen Großeltern in Nevada gesprochen«, sagte Hanna. »Sie wollen dich kennenlernen.«
    Julia starrte auf den Teppich. Hannas Worte drangen nur langsam zu ihrem Verstand vor. Sie wollen dich kennenlernen. Ihre indianischen Großeltern wollten sie sehen. Jetzt, wo ihr einziger Sohn tot war. Dabei hatten sie jahrelang nichts von ihr wissen wollen!
    John war alle zwei Jahre nach Nevada geflogen, um seine Kinder aus erster Ehe und seine Eltern zu besuchen. Hanna und Julia hatte er nie mitgenommen, sie wären auf der Ranch nicht willkommen gewesen.
    Jedes Mal hatte es nach seiner Rückkehr ein wenig länger gedau ert, bis er nicht mehr traurig und niedergeschlagen war. In den letz ten drei Jahren hatte ihr Vater kaum noch von seinem Zuhause und seinen Eltern gesprochen, obwohl Julia wusste, wie sehr er beides vermisste.
    »In zwei Wochen findet das Sommertreffen der Shoshoni in den Bergen statt und deine Großmutter hat uns dazu eingeladen«, sagte Hanna. »Es soll eine Abschiedszeremonie für deinen Vater geben.« Sie holte tief Luft. »Wenn du es möchtest, fliegen wir.«
    Julia war so durcheinander, dass sie nicht wusste, was sie wollte. Nevada war immer ihr Traum gewesen. Sie hatte mit ihrem Vater dorthin fliegen wollen, damit er ihr alles zeigte. Was sollte sie jetzt dort – ohne ihn?
    Julia kannte nur Fotos von ihren Großeltern und einige alte Zei tungsausschnitte, die John ihr gezeigt hatte. Sie wusste, dass Ada und Boyd Temoke unablässig für die Rechte der Ureinwohner kämpften. In einem der Zeitungsartikel bezeichnete der Journalist die beiden Alten als das Rückgrat des Widerstandes gegen den Landraub und gegen Atomtests und Goldabbau auf Western-Sho shone-Land.
    Julia hob den Kopf und sah ihre Mutter an. »Kann ich darüber nach denken?«
    »Sicher kannst du das. Aber nicht zu lange, ich muss den Flug bu chen.«
    »Ich sage dir morgen Bescheid, okay?« Julia stand auf, um das Wohnzimmer zu verlassen. Doch an der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Warum wolltest du damals eigentlich unbedingt nach Deutschland zurück? Wieso bist du nicht mit Pa auf der Ranch geblieben?«
    Hanna sah ihre Tochter traurig an. »Warum ich nicht bleiben woll te? Ach Julia, du weißt so wenig, du kannst dir das alles gar nicht vorstellen. Die Ranch . . .«, sie stockte. »Anfangs war es nicht so schwer zu ertragen. Ich war in deinen Vater verliebt. Sehr verliebt. Und ich habe tatsächlich geglaubt, man könnte sich an alles gewöh nen, wenn man es nur will.«
    »Aber es hat nicht funktioniert.«
    »Nein. Du kennst die Ranch nicht. Diese Einsamkeit. Der Müll überall, die Armut. Es gibt noch nicht mal warmes Wasser.«
    Julia zog die Mundwinkel nach unten. »Das sind doch alles bloß Äußerlichkeiten.«
    » Äußerlichkeiten? Du hast ja keine Ahnung. Kein normaler Mensch kann es da aushalten.«
    »Sie tun es. Meine Großeltern leben dort. Und Pa hat es auch dort ausgehalten, bis er dich kennenlernte.«
    »Mein Gott Julia! Warum verachtest du mich so sehr dafür, dass ich dich nicht in einer Blechkiste aufwachsen sehen wollte?«
    Weil Pa dann vielleicht noch leben würde , dachte Julia.
    »Wie komme ich eigentlich dazu, mich vor dir rechtfertigen zu müssen?« Es sah so aus, als wollte Hanna aufspringen, doch dann sackte sie wieder in sich zusammen. »Ich konnte einfach nicht blei ben«, flüsterte sie.
    Julia sah ihre Mutter schweigend an.
    »Glaub mir, es waren nicht nur der Müll und diese Primitivität dort draußen, die mir zu schaffen gemacht haben. Es war viel mehr.« Hanna rieb sich
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