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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Autoren: Christoph Marzi
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Jahren nach draußen in die Stadt der Schornsteine geflüchtet war. Ein von Rost und Meersalz zerfressenes Schloss prangte an der Tür. Wie oft war sie durch diese Tür ein und aus gegangen? Wie oft hatte der Reverend die anderen Kinder und sie selbst auf Botengänge geschickt?
    Sie seufzte.
    Und bemerkte erschrocken die Schritte in der Nacht.
    Ein leises Geräusch, das irgendwo in den Schatten der düsteren Gassen geboren wurde.
    Lauter wurde es, ein wenig nur.
    Jemand näherte sich ihr.
    Ein nächtlicher Wanderer bloß, dachte sie.
    Blickte sich um.
    Zu erkennen war nichts.
    Fette Schneeflocken wirbelten durch die Nachtluft und verdeckten die Sicht auf die Dunkelheit dahinter. Nun denn, wer auch immer da durch die Nacht schleichen mochte, Emily hatte nicht das geringste Interesse daran, ihm zu begegnen. Also entschied sie sich für den Weg, den sie bereits zuvor ins Auge gefasst hatte und um den zu gehen sie wohl an diesen Ort zurückgekehrt war.
    Das rostige Schloss, mutmaßte sie, sollte keinen Widerstand leisten. Fest trat sie mit dem Stiefelabsatz gegen das altersschwache Metall, das augenblicklich nachgab und die alte Tür mit einem Ächzen aufschwingen ließ.
    Die Schneeflocken wirbelten unruhig durch die Nacht, und ein eisiger Wind wehte eine ganze Wolke von ihnen in das dunkle Loch hinein, das sich mit einem Mal im Türrahmen aufgetan hatte und hinter dem sich, wie Emily wusste, die ehemalige Küche des Waisenhauses verbarg.
    Unverzagt setzte sie ihren Fußüber die Schwelle.
    Fragte sich erneut, was sie eigentlich erreichen wollte.
    Nach dem Gespräch mit Adam Stewart war sie ziellos durch die Straßen von Covent Garden gelaufen, hatte letzten Endes den nächstbesten Zug der Circle Line bestiegen und war fast eine Stunde lang teilnahmslos in dem überfüllten Abteil sitzen geblieben, hatte die Bahnhöfe vorbeirauschen sehen und sich selbst Fragen gestellt, auf die sie keine Antworten wusste. Am Westminster Pier schließlich hatte sie die gelbe Linie verlassen und war der Rolltreppe hinauf in die klirrende Winternacht gefolgt, wo Touristen das Parlament und den Glockenturm mit der prächtigen Uhr fotografierten und sogar zu solch später Stunde noch in Trauben die Fußwege versperrten.
    Dann hatte sie den dunklen Fluss überquert und war dem Uferweg gefolgt, bis sie ihre Schritte nach Rotherhithe geführt hatten.
    Und hier war sie nun.
    Allein und enttäuscht an einem Ort, den sie niemals wieder hatte betreten wollen.
    Das spärliche Licht der Straßenlaterne schien in den großen Kellerraum hinein und warf gezackte Schatten zwischen die von Schmutz und Staub überzogenen Gegenstände. Hier hatte Emily damals ihr linkes Auge verloren, weil einem ungeschickten Jungen ein Missgeschick passiert war. Ein Zufall nur, doch wie zufällig mochte das Leben damals schon gewesen sein? An Eliza Holland musste sie denken und das, was sie erlebt hatte, als sie in Emilys Alter gewesen war. Eliza, die eine gute Freundin gewesen war und die Stadt der Schornsteine verlassen hatte. Und Aurora? Schon viel zu lange hatten die Mädchen sich nicht mehr gesehen. Dabei waren die beiden früher doch unzertrennlich gewesen.
    Die Welt, dachte Emily müde, dreht sich eben weiter.
    Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Wasserrohre waren infolge der Kälte geplatzt, und die Fluten, die sich aus ihnen ergossen hatten, waren mittlerweile zu einer dicken Eisschicht erstarrt, die alles in dem großen Raum bedeckte.
    Emily sollte gar nicht hier sein.
    Niemand wusste, wo sie sich aufhielt.
    Und sollte etwas in der Nacht nach ihr Ausschau halten, dann würde sie eine leichte Beute sein, und niemand wüsste, wo er nach ihr zu suchen hatte. Erneut warf sie einen Blick nach draußen, wo jetzt keine Schritte mehr zu hören waren, und schloss dann die Tür hinter sich. Es brauchte niemanden zu kümmern, dass sie sich in dem Gebäude aufhielt.
    Mutig drang sie weiter in die Räumlichkeiten ihres alten Zuhauses vor. Ihr Auge gewöhnte sich schnell an das Dämmerlicht zwischen Finsternis und Schattenspiel, und die Welt, durch die sie sich bewegte, wurde mit einem Mal wieder zu jener Welt, in der sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Da war das riesige Treppenhaus, in dem jetzt Schneeflocken wirbelten. Und weiter oben der Schlafsaal für die Neuzugänge, wie die ganz kleinen Kinder genannt worden waren. Dort hatte sie zum ersten Mal ihrer Schwester gegenübergestanden. So viele Erinnerungen, noch lebendig wie damals. All die
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