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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Autoren: Christoph Marzi
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für diesen Tag schloss. Mechanisch überprüfte sie die Einnahmen des Tages, vervollständigte die Kassenrechnung und sortierte einige der neuen Bücher in die Regale ein. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sie sich auf einer der Bücherkisten niederließ, an Adam Stewart und die vergangenen zwei Jahre dachte und hemmungslos zu weinen begann.
    Drei Stunden später fand sie sich am Südufer der Themse wieder, drüben in Rotherhithe, wo das schmutzige Kopfsteinpflaster und die spärlich beleuchteten Gassen noch immer den Hauch von Bosheit und düsterer Vorahnung verheißen, wie sie es vor hundert Jahren schon taten, als hier in dieser Gegend noch die Waren aus den Kolonien umgeschlagen wurden und es nach exotischen Gewürzen und Träumen duftete.
    Emily Laing war an diesem Abend hierher zurückgekehrt und wusste nicht einmal genau, warum.
    Sie war einfach hier.
    An diesem eisigen Winterabend.
    Nicht lange vor Weihnachten.
    Sie stand vor dem riesigen alten Backsteinhaus, dessen Fassade bröckelte und das einstmals, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, ein Waisenhaus gewesen war. Gerade einmal zwölf Jahre alt war Emily gewesen, als sie das »Dombey & Son« in einer dunklen, stürmischen Nacht überstürzt verlassen hatte und ängstlich und kopflos in die Straßen Londons geflüchtet war. Ein Kind noch, das außer dem Waisenhaus nur wenig von der Welt gekannt hatte. Fast sechs Jahre war dies nun her. Eine Ewigkeit, ein Schmetterlingsflügelschlag. Manchmal träumte sie noch von Reverend Dombey und den Dingen, die sich hinter den hohen Mauern zugetragen hatten. Von der Ratte und dem Kindsraub und der weiß geschminkten Lady namens Snowhitepink, die alle Waisenkinder gefürchtet hatten wie den Tod.
    Das Schild aus morschem Holz, das seit jeher klapprig den Eingang geziert hatte, war nun gänzlich verschwunden, und viele der schmutzigen Fensterscheiben waren mit dicken, fleckigen Brettern verschlagen oder dermaßen zersplittert, dass der Wind, der von der Themse den modrigen Geruch der dunklen Fluten hinüberwehte, mühelos seinen Weg ins Innere des Gebäudes finden konnte.
    Das Mädchen, das den Kragen seines schwarzen Mantels hochgeschlagen hatte, stand lange vor dem einstigen Waisenhaus, schweigsam und nachdenklich.
    Die Welt, dachte Emily, dreht sich eben immer weiter.
    Ihre Welt aber war gerade in einem Augenblick stehen geblieben, der immer noch Gegenwart war und nie ganz Vergangenheit sein würde. Der sich wieder und wieder vor ihrem Auge abspielte und der eigentliche Grund dafür war, dass sie nach Rotherhithe gekommen war.
    Emily betrachtete die Fenster des schäbigen Gebäudes, die wie tote Augen in die Winternacht starrten. Für einen Moment nur hatte sie mit dem Gedanken gespielt, in das Gebäude hineinzugehen und nachzuschauen, was aus all den Räumen geworden war, jetzt, nachdem die Kinder sie verlassen hatten. Stattdessen nahm sie vorlieb damit, die Handschuhe auszuziehen und zögerlich die kalte Mauer zu berühren.
    Vorerst jedenfalls.
    Sie schloss die Augen.
    Damals war sie ganz allein gewesen, und jetzt, nachdem Adam Stewart nach Paris gehen würde, war sie es wieder. Deswegen war sie hergekommen. Um sich zu erinnern.
    Hatte sie es damals nicht auch geschafft, einfach weiterzumachen?
    Nur mühsam schüttelte sie die Bilder ab.
    Dachte an andere Dinge.
    Unterwegs hatte sie dichten Nebel auf der Themse treiben sehen und sich der Geschichten erinnert, die man sich überall erzählte. Im fahlen Schein der Laternen hatte es sogar so ausgesehen, als bewegten sich die Nebel gegen den Wind, was natürlich Humbug war und nur einer Sinnestäuschung zuzuschreiben. Es gab keine Nebel, die sich so verhielten. Nein, Nebel trieben normalerweise mit dem Wind, doch das, was sie gesehen hatte, entsprach durchaus den geflüsterten Beschreibungen, die sich die Kunden im Laden und die Menschen in der U-Bahn hinter vorgehaltenen Händen zuraunten.
    Wachsam hatte sich Emily in den engen Gassen und auf den verwinkelten Uferwegen umgedreht und nach lauernden Wegelagerern oder wabernden Nebeln Ausschau gehalten. Immerhin war dies London, und man konnte der Dunkelheit niemals ganz trauen. Wenn es eines gab, das sie während der letzten Jahre gelernt hatte, dann war es dies.
    Und nun stand sie also wieder vor dem Waisenhaus von Rotherhithe.
    Gerade so, als hätte sich gar nichts verändert.
    Sie schlenderte an der schmutzigen Fassade entlang und blieb schließlich vor dem Kellereingang stehen. Jener Tür, durch die sie vor sechs
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