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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter
Autoren: Petra Oelker
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die Nachricht, dass aus wilden Indianern Chirurgen
     werden konnten. «Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass ein Chirurg nicht viel mehr als ein Bader und noch lange kein Arzt
     ist, ist das für Kerle, die für ihre Sprache nicht einmal Buchstaben kennen und ihren Feinden bei günstiger Gelegenheit das
     Fell über die Ohren ziehen, eine beachtliche Leistung.»
    Rasche Schritte sprangen die Treppe von der Diele zum kleinen Salon im ersten Stock herauf, die Tür flog auf, und Christian
     Herrmanns, der älteste Sohn des Hauses, trat ein. Das walnussbraune Haar war vom schnellen Gang durch die feuchte Luft stärker
     als sonst gelockt, eine dicke Strähne fiel ihm über die Stirn, mit einer raschenBewegung schob er sie wieder in das schwarze Band im Nacken zurück. Mit seinen grauen Augen, hellwach und meistens vergnügt,
     seiner geraden, nicht sehr großen Nase glich der Vierundzwanzigjährige seiner um zwei Jahre jüngeren Schwester Sophie auf
     männliche Weise beinahe wie ein Zwilling, was Anne heute besonders deutlich schien.
    «Guten Morgen, Madame, Monsieur.» Er nickte fröhlich seinem Vater zu, der sich für den Moment eines begrüßenden, wohlwollenden
     Blicks von seiner Zeitung losriss, beugte sich schwungvoll über die Hand seiner Stiefmutter und ließ sich auf einen Stuhl
     fallen. «Morgen, spätestens übermorgen ist die Elbe frei», verkündete er. «Das Eis ist fast weg, und der Lotsinspektor hat
     die Peilungen für das Fahrwasser bis Cuxhaven schon bekommen. Vor Altona wird zwar noch gelotet, aber auch das ist heute Nachmittag
     erledigt.» Er griff nach dem Brot, brach ein Stück ab, schwankte kurz zwischen Aalpastete und Hirschschinken, entschied sich
     für Letzteren und fuhr fort: «Aber darüber redet heute Morgen am Hafen kein Mensch. Alle reden nur über die
Rose of Rye.
Ein ganz passables Schiff, das kann niemand bestreiten, und ein frecher Kapitän. Paulung hat verdammtes Glück gehabt, dass
     er nicht auf einem der Sände gelandet ist.»
    Die
Rose of Rye,
eine englische Bark, war gestern mit der Dämmerung in den Hafen eingelaufen, das erste Schiff in diesem Frühjahr, und auch
     wenn mancher anerkennend durch die Zähne gepfiffen hatte, war die Empörung über den Kapitän groß. Dem hatte trotz des schwachen
     Windes das auflaufende Wasser gereicht, von seinem Ankerplatz vor Glückstadt den Hamburger Hafen zu erreichen. Er hatte noch
     mehr Glück gehabt, dass dasWasser hoch genug stand, um nicht an den Sandbarren vor Blankenese und Altona stecken zu bleiben. Doch wenn er die Häfen des
     Kontinentes kannte, hatte er ohne Zweifel gewusst, dass das Bett der Elbe am Ende des Winters durch die nassen Monate und
     das Schmelzwasser der zahlreichen Nebenflüsse und Bäche stets besonders gut gefüllt war. Es hieß, der Nebel sei westlich von
     Schulau nicht mehr der Rede wert, dennoch war diese Fahrt mehr als leichtsinnig gewesen. Wäre er auf Grund gelaufen oder hätte
     einen der Ewer oder Milchboote von den Inseln gerammt, die bei aufkommendem Nebel im Fahrwasser ankern mussten, wäre es unvermeidlich
     zur Havarie gekommen, das Fahrwasser wäre dann wer weiß wie lange blockiert gewesen, und das so kurz bevor all die Schiffe,
     die seit Wochen oder gar Monaten darauf warteten, endlich wieder die Elbe hinauf- und hinabfahren konnten.
    «Unverantwortlich», sagte Claes, obwohl auch er dieses Schurkenstück, wie sein alter Freund Bocholt es gestern genannt hatte,
     heimlich bewunderte und – noch heimlicher – bedauerte, dass die Waren aus England, die er so dringend erwartete, nicht zur
     Ladung der
Rose of Rye
gehörten. Ganz besonders das Campecheholz, von dem in ganz Hamburg nichts mehr aufzutreiben war. Es hätte einen exzellenten
     Preis gebracht, wäre es ein oder zwei Wochen früher als die anderen Ladungen hier gewesen. «Er hatte einen Stader Lotsen.
     Von denen ist nichts anderes zu erwarten. Hauptsache, sie können den Hamburgern oder Övelgönner-Neumühlenern ein Lotsgeld
     wegschnappen.»
    Christian, der noch nicht lange genug im Kontor seines Vaters arbeitete, um das Vergnügen über ein Wagnishinter der Maske der Rechtschaffenheit zu verbergen, lachte.
    «Sie haben Unternehmungsgeist, ohne Zweifel, und der alte Paulung scheint die Elbe zu kennen wie ein hundertjähriger Lachs.
     Der versteht es, selbst die Verschiebung der Sände während des Winters ganz ohne Lot zu berechnen. Obwohl Monsieur Bocholt
     eher glaubt, der Lotse habe die neuen Peil- und Lotungslisten
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