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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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verziehen ist und folglich auch alles auf zynische Weise erlaubt.
    Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens unendliche Male wiederholt, sind wir an die Ewigkeit genagelt wie Jesus Christus ans Kreuz. Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der Ewigen Wiederkehr lastet auf jeder Geste die Schwere einer unerträglichen Verantwortung. Aus diesem Grund hat Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr >das schwerste Gewicht< genannt.
    Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist, kann unser Leben vor diesem Hintergrund in seiner ganzen herrlichen Leichtigkeit erscheinen, Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
    Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, preßt uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.
    Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch leichter wird als Luft, daß er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.  Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?
    Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit; WärmeKälte; Sein-Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht,  Feinheit, Wärme, Sein) als positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?  Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ.
    Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze.
    3.
    Seit vielen Jahren schon denke ich an Tomas, aber erst im Licht dieser Überlegungen habe ich ihn zum ersten Mal klar vor mir gesehen. Ich sehe ihn, wie er in seiner Wohnung am Fenster steht, über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks schaut und nicht weiß, was er tun soll, Er hatte Teresa vor etwa drei Wochen in einer böhmischen Kleinstadt kennengelernt. Sie hatten knapp eine Stunde miteinander verbracht. Sie hatte ihn zum Bahnhof begleitet und gewartet, bis er in den Zug gestiegen war. Zehn Tage später besuchte sie ihn in Prag. Noch am selben Tag liebten sie sich.  In der Nacht bekam sie Fieber und blieb eine ganze Woche mit Grippe in seiner Wohnung.
    Er empfand damals eine unerklärliche Liebe für dieses Mädchen, das er kaum kannte; sie kam ihm vor wie ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Fluß ausgesetzt hatte, damit er es am Ufer seines Bettes barg.
    Sie blieb eine Woche bei ihm, und als sie wieder gesund war, fuhr sie zurück in ihre Kleinstadt, zweihundert Kilometer von Prag entfernt. Und jetzt folgt der Augenblick, von dem ich gerade gesprochen habe, in dem ich den Schlüssel zu Tomas' Leben sehe: Er steht am Fenster, schaut über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks und überlegt: Sollte er sie für immer nach Prag holen? Er fürchtete diese Verantwortung. Würde er sie jetzt einladen, sie würde kommen, um ihm ihr ganzes Leben anzubieten.
    Oder sollte er einfach nichts mehr von sich hören lassen?
    Das würde bedeuten, daß Teresa Serviererin in einem gottvergessenen Provinznest bliebe und er sie nie wiedersehen würde.
    Will er, daß sie zu ihm kommt, oder will er es nicht?
    Er schaut über den Hof auf die Mauern gegenüber und sucht nach einer Antwort.
    Immer wieder sah er sie vor sich, wie sie auf seinem Bett lag; sie erinnerte ihn an niemanden aus seinem bisherigen Leben. Sie war weder Geliebte noch Gemahlin. Sie war ein Kind, das er aus dem pechbestrichenen Körbchen gehoben und an das Ufer seines Bettes gelegt hatte. Sie war eingeschlafen. Er kniete sich neben sie. Ihr fiebriger Atem wurde schneller, und er hörte ein schwaches Stöhnen. Er preßte sein Gesicht an ihres und flüsterte ihr besänftigende Worte in den Schlaf. Nach einer Weile fühlte er, wie ihr Atem sich beruhigte und sie ihr Gesicht unwillkürlich dem seinen entgegen hob. Er spürte an ihren Lippen den herben Geruch des Fiebers und atmete ihn ein, als wollte er die
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