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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Autoren: Milan Kundera
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Intimität ihres Körpers ganz in sich aufnehmen. Er stellte sich vor, daß sie schon viele Jahre bei ihm war und nun im Sterben lag.
    Plötzlich hatte er das untrügliche Gefühl, er könnte ihren  Tod nicht überleben. Er würde sich an ihre Seite legen und mit ihr sterben wollen. Er preßte sein Gesicht neben ihrem Kopf ins Kissen und verharrte lange Zeit so.  Jetzt steht er am Fenster und besinnt sich auf jenen Augenblick. Was konnte es anderes sein als die Liebe, die sich ihm auf diese Weise offenbart hatte?
    Aber war es Liebe? Das Gefühl, an ihrer Seite sterben zu wollen, war ganz offensichtlich unangemessen: er hatte sie damals gerade zum zweiten Mal in seinem Leben gesehen!
    War es nicht eher die Hysterie eines Menschen, der sich im Grunde seines Herzens seiner Liebesunfähigkeit bewußt war und anfing, sich die Liebe vorzuspielen? Sein Unterbewußtsein war dabei so feige, daß er sich für seine Komödie ausgerechnet diese armselige Serviererin aus einem Provinznest ausgesucht hatte, die im Grund keine Chance hatte, in sein Leben zu treten!
    Er schaute über den Hof auf die schmutzigen Mauern und begriff, daß er nicht wußte, ob es Hysterie war oder Liebe.
    Er machte sich den Vorwurf, daß er in einer Situation zauderte, in der ein richtiger Mann sofort gewußt hätte, was zu tun war, und daß er den schönsten Augenblick seines Lebens (er kniete an ihrem Bett und es schien ihm, er könnte ihren Tod nicht überleben) jeder Bedeutung beraubte.
    Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, daß er nicht wisse, was er wolle.
    Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.
    Ist es besser, mit Teresa zu leben oder allein zu bleiben?
    Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch >Skizze< ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.
    Einmal ist keinmal, sagt sich Tomas. Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.
    4.
    Eines Tages rief ihn eine Schwester in der Pause zwischen zwei Operationen ans Telefon. Er vernahm Teresas Stimme im Hörer. Sie rief vom Bahnhof aus an. Er freute sich. Leider hatte er für den Abend schon eine Verabredung und lud sie deshalb erst für den nächsten Tag zu sich ein. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, machte er sich Vorwürfe, daß er sie nicht gebeten hatte, gleich zu kommen. Er hätte noch Zeit genug gehabt, seine Verabredung abzusagen! Er stellte sich vor, was Teresa sechsunddreißig Stunden lang bis zu ihrem Treffen machen würde und hatte Lust, sich ins Auto zu setzen und sie in den Straßen von Prag zu suchen.
    Sie kam am nächsten Abend, trug eine Umhängetasche über der Schulter, und er fand sie eleganter als das letzte  Mal.
    In der Hand hielt sie ein dickes Buch. Anna Karenina von Tolstoi. Sie gab sich fröhlich, sprach sogar ein wenig laut und bemühte sich, ihm zu verstehen zu geben, daß sie rein zufällig vorbeigekommen sei; es habe sich gerade so ergeben: sie sei aus beruflichen Gründen in Prag, möglicherweise (ihre Angaben waren nicht sehr klar), um eine Stelle zu suchen.  Dann lagen sie nackt und erschöpft nebeneinander auf dem Bett. Es war schon dunkel. Er fragte sie, wo sie wohnte und bot ihr an, sie mit dem Wagen hinzufahren. Sie antwortete verlegen, sie müsse erst noch ein Hotel suchen und habe den Koffer in der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof abgegeben.
    Noch am Abend vorher hatte er befürchtet, sie könnte ihm ihr ganzes Leben anbieten, wenn er sie zu sich nach Prag holte. Als sie ihm nun sagte, ihr Koffer sei in der Gepäckaufbewahrung, hatte er die Idee, daß ihr ganzes Leben in diesem Koffer steckte und sie es nur vorübergehend am Bahnhof abgegeben hätte, um es ihm dann anzubieten.
    Er stieg mit ihr ins Auto, das er vor dem Haus geparkt hatte, fuhr zum Bahnhof, holte den Koffer ab (er war riesig und unendlich schwer) und brachte ihn und Teresa in seine Wohnung
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