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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Autoren: Dean Koontz
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hatte und obwohl er wusste, dass die Furcht vor seinem Bruder so absurd war wie die Furcht vor dem Traktor oder den Pferden oder dem Geruch des Heus, wollte das Gefühl, eine unbeschreibliche Gräueltat stünde bevor, nicht nachlassen.
    Hinter ihm schwang die Tür der Scheune zu, von ihrem eigenen Gewicht in Bewegung gesetzt.
    Jim drehte sich mit der Axt zu ihm um, Henry wich zurück und Jim ging um ihn herum, um die Axt an ein Werkzeuggestell zu hängen.
    Mit Herzrasen und plötzlich keuchendem Atem zog Henry die SIG P245 aus dem gut sitzenden Schulterhalfter unter seiner Jacke und gab aus nächster Nähe Schüsse auf seinen Zwillingsbruder ab, zwei in die Brust und einen ins Gesicht.
    Henry war in der Hoffnung hergekommen, sein Verhältnis zu seinem Bruder würde sich ändern, und diese Hoffnung hatte sich erfüllt. Claude Henry Rouvroy war auf dem besten Weg, James Carlyle zu werden.
    Die Pistole war mit einem Schalldämpfer ausgerüstet, und die Schüsse klangen nicht lauter als Pferdefurze. Tatsächlich war keines der beiden Pferde über die Geräusche erschrocken.
    Henry stand über der Leiche und zwang sich, wieder ruhiger zu atmen. Zitternd schob er die Pistole ins Halfter zurück, um zu vermeiden, dass er versehentlich noch einen Schuss abgab.
    Er hatte sich Sorgen gemacht, sein Bruder würde argwöhnisch werden, und er hatte befürchtet, er würde nicht in der Lage sein, den Abzug zu betätigen, wenn der rechte Moment gekommen war. Während er bemüht gewesen war, diese Befürchtungen beharrlich zu unterdrücken, damit er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, hatte er seine Motive auf Jim übertragen, sich eine Verschwörung zwischen ihm und Nora eingebildet und in alltäglichen Gebrauchsgegenständen – den Messern, der Axt – Indizien für finstere Absichten gesehen. Er hatte unschuldige Handlungen als Bedrohung gedeutet: Nora, die am Fenster gestanden und sie beobachtet hatte, Jim, der über Kornweihen sprach, über Raubvögel und ihre Beute.
    Nach ein paar Minuten, als er wieder normal atmete und das Zittern nachgelassen hatte, konnte Henry über sich selbst lachen. Sein Gelächter war leise, hatte jedoch etwas an sich, das die Pferde aufschreckte. Sie wieherten nervös und scharrten mit ihren Hufen auf dem Stallboden.

4
    Grady Adams lebte in einem zweistöckigen Haus mit silberweißer Zedernholzverkleidung und einem schwarzen Schieferdach, dem letzten von zehn Wohnhäusern an einer Landstraße. Die zweispurige Asphaltstraße hatte keinen offiziellen Namen, nur eine Nummer, doch die Ortsansässigen nannten sie Cracker’s Drive, nach Cracker Conley, der das Haus, in dem Grady jetzt wohnte, erbaut und vierzig Jahre dort gelebt hatte.
    Niemand konnte sich an Crackers richtigen Vornamen erinnern und auch nicht daran, warum er Cracker genannt worden war. Offenbar war er ein Exzentriker gewesen und mit Sicherheit ein zurückgezogener Mensch, denn für die Einheimischen war Cracker eher eine Legende als ein echter Nachbar, mit dem man Umgang gehabt hatte.
    In der Vorstellung der Ortsansässigen hatte Conleys Verlangen nach Einsamkeit den Charakter des Hauses für alle Zeiten geprägt. Sie nannten es selten das Conley-Haus oder Crackers Haus und niemals das Adams-Haus oder auch nur das Haus am Ende der Straße. Es war als das Haus des Einsiedlers bekannt, und wie aus Respekt vor dieser Bezeichnung neigten sie dazu, Abstand zu halten.
    Die meiste Zeit über passte ihre Zurückhaltung Grady gut in den Kram. Er war kein Misanthrop. Aber in den letzten Jahren hatte er genug – um nicht zu sagen: zu viele
Erfahrungen mit Menschen gemacht und war deshalb in diese spärlich besiedelten Berge zurückgekehrt. Zumindest eine Zeit lang, vielleicht auch für länger, zog er die Einsamkeit vor, die Cracker Conley anscheinend so geschätzt hatte.
    Nach der Rückkehr von dem Spaziergang, auf dem ihm die faszinierenden Tiere begegnet waren, bereitete Grady in der Küche Merlins Vier-Uhr-Mahlzeit zu. Die Zubereitung dauerte länger als ihr Verzehr.
    »Du hast den richtigen Namen, wenn man bedenkt, wie du Essen verschwinden lässt.«
    Der Hund leckte sich die Lefzen und schlenderte zur Tür, um hinausgelassen zu werden.
    Die Hälfte des gut einen Hektar großen Grundstücks lag hinter dem Haus. Nach seinem frühen Abendessen streifte der Hund gern über das Anwesen und beschnupperte das Gras, um in Erfahrung zu bringen, welche Geschöpfe aus Feld und Wald kürzlich zu Besuch gewesen waren. Der Garten hinter dem Haus war
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