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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Autoren: Dean Koontz
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mit so reichen Bildern und so viel Gefühl, dass es klang, als sei diese Schönheit nicht weniger erhaben als die einer Kathedrale.
    »Die größte Schönheit liegt immer in alltäglichen Dingen«, sagte Jim. »Möchtest du dir die Scheune vielleicht ansehen?«
    »Ja, gern.« Henry bewunderte die Lyrik seines Bruders noch mehr, als er es bisher hatte ausdrücken können. Jims Gedichte besaßen eine unbeschreibliche Eigenart, die so betörend war, dass man nicht leicht darüber diskutieren konnte. »Ich würde mir die Scheune wirklich gern ansehen.«
    Jim, der eindeutig in diesen Flecken Erde verliebt war, den er und Nora sich zu eigen gemacht hatten, strahlte, nickte und stand vom Tisch auf.
    Nora sagte: »Ich werde inzwischen die Schlafcouch beziehen und mir Gedanken darüber machen, was es zum Abendessen gibt.«
    Als er Jim aus der Küche folgte, warf Henry einen Blick auf die Messer, die auf der Arbeitsfläche lagen. Bei genauerer Betrachtung wirkten sie weniger wie gewöhnliche Arbeitsmesser, sondern eher wie Hieb- und Stichwaffen. Die brünierten Klingen waren zehn und zwölf Zentimeter lang und in zwei Fällen schien es sich um eine Art Springmesser zu handeln.
    Aber andererseits wusste Henry nichts über die Arbeiten auf einer Farm. Diese Messer konnten in jedem Geschäft für Landwirtschaftsbedarf Standardware sein.
    Draußen war die Nachmittagsluft immer noch mild. Von den Scheiten stieg der Geruch nach Kiefernholz auf.
    Über ihren Köpfen glitten in Kreisen, die sich überschnitten, zwei prachtvolle Vögel mit einer Spannweite von mehr als einem Meter. Die Brustfedern des ersten waren weiß mit schwarzen Flügelspitzen. Der zweite war kräftig weiß und braun gebändert.
    »Kornweihen«, sagte Jim. »Der weiße mit den schwarzen Spitzen ist das Männchen. Kornweihen sind Greifvögel. Wenn sie auf der Jagd sind, fliegen sie niedrig über Felder und töten, indem sie plötzlich herabstoßen.«
    Er lockerte die Axt und zog sie aus dem Baumstumpf, den er als Hackklotz benutzte.
    »Die bringe ich besser gleich in die Scheune«, sagte er, »bevor ich sie vergesse und sie über Nacht draußen lasse.«
    »Kornweihen«, sagte Henry. »Sie sind so schön, dass man sich nicht vorstellen kann, sie würden töten.«
    »Sie ernähren sich vorwiegend von Mäusen«, sagte Jim. »Aber auch von kleineren Vögeln.«
    Henry schnitt eine Grimasse. »Du meinst sie sind Kannibalen?«
    »Sie fressen keine anderen Kornweihen. Wenn sie sich von kleineren Vögeln ernähren, fällt das ebenso wenig unter Kannibalismus wie unser Verzehr von anderen Säugetieren – Schweinen oder Kühen.«
    »Vermutlich verklärt man die Natur, wenn man in der Stadt lebt«, sagte Henry.
    »Nun ja, wenn man akzeptiert, wie es zugeht, dann besitzt der Tanz von Raubtieren und ihrer Beute sogar eine herbe Schönheit.«
    Auf dem Weg zur Scheune trug Jim die Axt in beiden Händen, als würde er sie jederzeit heben und schwingen, falls er etwas sah, das abgehackt werden musste.
    Die Kornweihen waren vom Himmel verschwunden.
    Als Henry zum Haus zurückblickte, sah er, dass Nora sie von einem Fenster aus beobachtete. Mit ihrem bleichen Haar und ihrer weißen Bluse sah sie hinter der Glasscheibe aus wie ein Geist. Sie wandte sich ab.
    »Leben und Tod«, sagte Jim, als sie die Scheune fast erreicht hatten.
    »Wie bitte?«
    »Raubtiere und ihre Beute. Die Notwendigkeit des Todes, wenn das Leben Sinn und Maß haben soll. Der Tod als Bestandteil des Lebens. Ich arbeite an einer Reihe von Gedichten zu diesen Themen.«
    Jim öffnete den mannshohen Eingang neben den größeren Scheunentoren. Henry folgte seinem Bruder in den Keil Sonnenschein, den die offene Tür in diesen fensterlosen und ansonsten dunklen Raum warf.
    Drinnen packte Henry in dem Moment, bevor das Licht anging, die Erwartung, ihm würde sich gleich ein Anblick bieten, auf den ihn Jims Gedicht nicht vorbereitet hatte. Als seien das Gedicht, der Gemüseanbau, die Patchworkdecken und das Image einfacher Leute alles Lügen und die Realität dieses Ortes und dieser Menschen schrecklicher als alles, was er sich vorstellen konnte.
    Als Jim einen Lichtschalter betätigte, erhellte eine Kette von nackten Glühbirnen diesen höhlenartigen Raum und zeigte, dass die Scheune nichts weiter als eine Scheune war. Ein Traktor und ein Löffelbagger waren links geparkt.
Zwei Pferde standen in Boxen an der rechten Wand. Es duftete nach Heu und Hafer.
    Obwohl sich Henrys alarmierende Vorahnung als unzutreffend erwiesen
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