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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Autoren: Dean Koontz
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streichelte und ihre Hand von dort aus nach vorn auf seine Schulter gleiten ließ, stellte sie fest, dass er ganz entspannt war.
    Sie legte ihre Hand auf seine Drosselrinne und folgte ihr den muskulösen Hals hinauf. Das Pferd rührte sich nicht und bewegte nicht einmal die Augen, um sie anzusehen.
    Cammy maß nur einen Meter dreiundsechzig, und Gallahad ragte hoch über ihr auf. Gute Vollblüter waren im Allgemeinen folgsam und manche konnten bei dem richtigen Trainer sogar gefügig sein, doch unterwürfig waren die wenigsten. Dennoch wirkte Gallahad in diesem
speziellen Moment lammfromm. Nichts an der Intensität seiner Konzentration auf die Berge im Westen verriet Wildheit oder gar Eigensinn.
    Seine Nüstern blähten sich nicht, und ebenso wenig zuckten seine Ohren. Sein Stirnhaar flatterte, als eine schwache Brise es in Bewegung versetzte, und die Mähne rührte sich auf seinem Kamm, aber ansonsten blieb Gallahad regungslos. Selbst als sie seinen Hals streichelte, schenkte sein Auge auf derselben Seite ihr keinerlei Beachtung.
    Als sie seiner Blickrichtung folgte, sah sie nichts Ungewöhnliches im Vordergrund, nur die nächste wellige Kette von Vorgebirgen und die Berge im Hintergrund und ganz hinten die Sonne, die durch die Krümmung der Lichtstrahlen in der Erdatmosphäre wie geschwollen wirkte, während die Erde sich resolut vom Licht abwandte.
    Neben ihr fragte Nash Franklin: »Was sagst du dazu?«
    Bevor sie etwas erwidern konnte, erwachten die Pferde aus ihrem Trancezustand und begannen sich zu rühren. Sie schüttelten die Köpfe, schnaubten, sahen sich um. Einige wenige senkten die Mäuler, um von dem süßen Gras zu naschen, während andere im leichten Galopp Schleifenmuster beschrieben. Offenbar aus reinem Vergnügen an der Bewegung, der kühlen Luft und dem orangefarbenen Licht, das über der Weide zu bersten schien. Auch in die Spielgefährten der Vollblüter – die Ziegen und die Hunde, die Katzen und die Ente – kam wieder Leben.
    Sämtliche Tiere benahmen sich so, wie sie es sonst auch getan hätten, denn der Bann war gebrochen. Und doch erschien nach dem Ereignis, trotz der wieder herrschenden
Normalität, alles wie verzaubert: das wispernde Gras, das leise Donnern galoppierender Hufe, der Lobgesang wiehernder Pferde und keuchender Hunde, die letzten noch verbliebenen Glühwürmchen der Sommersaison, die plötzlich ihre Wunderlämpchen durch die vorabendliche Luft trugen, die finsteren Schatten und die Vergoldung aller Dinge durch die untergehende Sonne, der Himmel, der im Osten von einem gleißenden Purpur war und im Westen zu einem feurigen Hexenkessel wurde.
    Die Pferdepfleger und die jungen Hilfskräfte, der Trainer und sein Assistent, Helen und Tom Vironi sowie Cammy Rivers wandten sich einander alle mit denselben unausgesprochenen und nicht zu beantwortenden Fragen zu: Warum wirkten die Tiere so entrückt? Was haben sie gehört, falls sie überhaupt etwas gehört haben? Was ist hier passiert? Was geschieht hier immer noch? Was ist das, was ich fühle, dieses Erstaunen ohne ersichtliche Ursache, diese erwartungsvolle Haltung, obwohl ich selbst nicht weiß, was ich erwarte, dieses Gefühl, dass sich heute etwas Folgenschweres ereignet hat, obwohl ich es nicht sehen konnte?
    Vor Cammys Augen verschwamm alles. Sie wusste nicht, warum Tränen ihren Blick verschleierten. Sie wischte sie mit ihrem Hemdsärmel weg und blinzelte. Sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können.

6
    Die Kornweihe schwebte keine drei Meter über den abgeernteten Feldern von Osten her in das herbstliche Licht der sinkenden Sonne, und ihr verlängerter Schatten kräuselte sich über den Ackerfurchen hinter ihr. Der Vogel stieß abrupt herab und schnappte im Gleitflug etwas vom Boden. Wie ein Ruderer in einem Meer aus Luft, der in die westwärts ziehende Sonne und über Henry Rouvroy schwebte, der gerade auf dem Weg von der Scheune zu dem mit Schindeln verkleideten Haus war.
    Henry blickte auf und sah ein Nagetier, das sich in den Klauen der Kornweihe wand. Der Anblick begeisterte ihn und bestätigte in seinen Augen, dass er nicht mehr und nicht weniger als dieses geflügelte Raubtier war, ein freies Geschöpf in einer Welt, über die niemand herrschte.
    Im Laufe seiner Jahre im öffentlichen Dienst war er zu der Erkenntnis gelangt, dass er eine Bestie war, deren grausamste Instinkte durch die wenigen Werkzeuge der Verdrängung, die ihm seine Erziehung und sein Kulturkreis an die Hand gegeben hatten, kaum zu beherrschen
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