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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift
Autoren: Helmuth Santler
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die Kunst der Täuschung ist in der Gegenwart so verfeinert worden, wie dies niemals zuvor möglich gewesen ist, und selbst dreiste Fälschungen und Falschbehauptungen sind nicht aus der Mode gekommen. Der Grund dafür ist einfach: Sie funktionieren immer noch. Außerdem wurde ein solches Vorschieben eines falschen Autors in der damaligen Zeit als gänzlich normal erlebt: Es ging um den Inhalt und der Name des Verfassers war sozusagen Teil des Programmes.
    Der urchristlichen Public Relations kann man zudem zugutehalten, in bester Absicht gehandelt zu haben: Die Schriften sollten erbaulich sein und Jesu Heilsbotschaft verkünden. Hoffnung in die Herzen zu pflanzen war ein hehres Anliegen und fiel angesichts der bedrückenden Umstände und der allgegenwärtigen existenziellen Not auf fruchtbaren Boden. Auch lässt sich in dieser Zeit Politik und Religion nicht voneinander trennen, und für lange Zeit gehörte ein gerüttelt Maß an (realpolitischem) Widerstandsgeist und viel Mut dazu, sich zum Christentum zu bekennen.
Jesus-Geschichten wurden verlangt – und geliefert.
    Da die Gemeinde nach Geschichten über ihren Jesus verlangte, wurden diese auch geliefert – besonders intensiv in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christi Geburt. Etliche aus Sicht der offiziellen Kirche mehr oder minder harmlose, später apokryphe Texte entstanden in dieser Zeit – das Protevangelium nach Jakobus, das Kindheitsevangelium nach Thomas, das Petrusevangelium. Mit diesen und ähnlichen Apokryphen möchte ich mich in späteren Kapiteln befassen, weil sie für die Entstehung der kanonischen Bibel und damit der katholischen Großkirche keine entscheidende Rolle spielten. Der Kampf um den „einzig wahren Glauben“ fand auf einer anderen Ebene statt.

Marcionismus, Montanismus, Gnosis
    Marcion von Sinope verbrachte die ersten 50 Jahre seines Lebens damit, als Reeder und Kaufmann ein gewaltiges Vermögen anzuhäufen. Ab ca. 135 n. Chr. begann er in Rom, seine Auffassung von Christentum zu lehren. Marcion unterschied sich dabei deutlich von der Großkirche: Insbesondere lehnte er das gesamte Alte Testament ab, denn in diesen Schriften erkannte er nichts als das Wirken eines bösen Gottes (eines Demiurgen), eines Gottes des Gesetzes. In Jesus offenbare sich hingegen der liebende Gott, der die Menschheit von der Herrschaft des (jüdischen) Gesetzes befreie; zur Erlösung brauche es nicht mehr als den Glauben an diesen guten Gott. Jesus gilt ihm nicht als Messias, sondern als ein göttliches Wesen mit einem Scheinleib, weshalb er auch nicht von den Juden getötet werden konnte.
Marcion erkannte im Alten Testament nur das Wirken eines bösen Gottes.
    Mithin existierten für Marcion zwei Götter, von denen er einen strikt ablehnte. Seine mit gnostischen Elementen durchsetzte Lehre brachte ihm 144 die Exkommunikation aus der römischen Kirche ein – inklusive Rückgabe seines enormen Geldgeschenkes, welches er der Großkirche beim Eintritt überlassen hatte; ein Hinweis auf die selbst in Zeiten der Verfolgung bereits gut gepolsterte finanzielle Situation der christlichen Gemeinde.
    Marcion begann zu reisen – und verbreitete seine Ansichten in Persien und Äygypten. Sein Erfolg (die letzten Spuren des Marcionismus verschwanden erst im 6. Jh.) war jedenfalls groß genug, um die römische Kirche auf den Plan zu rufen – nicht zuletzt, weil Marcion einen für sich genehmen Schriftenkanon aus den kursierenden christlichen Texten zusammenstellte. Der erste „christliche“ Bibelkanon der Geschichte bestand aus dem Lukasevangelium und den Paulusbriefen, die von ihm höchstpersönlich gereinigt, d. h. von allen Bezügen auf das Alte Testament befreit worden waren. Nur in diesen wenn auch von ihm „behandelten“ Schriften erkannte er das Wirken des liebenden Gottes allein. Paradox erscheint dabei seine Einschätzung der Schriften des Paulus: In diesen sind leib-, lust- und lebensfeindliche Tendenzen zuhauf zu finden, zusammen mit Frauen- und Eheverachtung sowie einer vermutlich essenisch beeinflussten Überbewertung eines mönchischen, asketischen Lebensstils – samt und sonders Elemente, die reichlich alttestamentarisch wirken und für die es in den Evangelien keine Belege gibt.
Der Marcionismus verbreitete sich bis Persien und Ägypten.
    Warum Marcion sich ausgerechnet für diese Schriften entschied, kann aus heutiger Sicht natürlich nur vermutet werden; angesichts der überragenden Rolle von Paulus als erstem erfolgreichen Missionar und
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