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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift
Autoren: Helmuth Santler
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erstem schriftlichen Zeugnisleger der Christenheit darf aber angenommen werden, dass es viel mit Opportunismus zu tun hatte. Es galt schlicht und einfach, den Windschatten von Paulus auszunützen.
    Für die Großkirche hieß es jedenfalls, der wachsenden Bewegung mit Entschlossenheit und in Einheit entgegen zu treten; die Bemühungen, zu einem einheitlichen Schriftenkanon zu gelangen, wurden merklich intensiviert.
    Eine andere sektiererische Bewegung, die sich über großen Zulauf freuen konnte und die die von eigenen Gnaden offizielle christliche Kirche dazu zwang, ihre innere Geschlossenheit voranzutreiben, war der
    Montanismus
    Vom Gründer Montanus wurde angenommen, er habe angesichts des nahenden Weltenendes Offenbarungen des Heiligen Geistes empfangen. Montanus selbst hielt sich für den im Johannesevangelium (14,16) angekündigten eschatologischen Parakleten, d. h. Beistand für das Erreichen der letzten Dinge.
    Diese bestanden im erwarteten tausendjährigen Reich Christi, für das es sich vorzubereiten galt. Strengste Askese, Fasten, Schlafentzug, Verzicht auf die Ehe bzw. auf jeglichen Geschlechtsverkehr lautete das Rezept. Theologisch stand die Prophetie im Mittelpunkt: Außer Montanus selbst waren noch die Prophetinnen Priska und Maximilla jederzeit bereit, die ihnen vom Heiligen Geist eingegebenen Offenbarungen in der Gemeinde zu verkünden.
Die Montanisten betrachteten das Martyrium als christliche Pflicht.
    Die Montanisten sahen bei schwerwiegenden Vergehen keine Möglichkeit der Vergebung (im Gegensatz zur großkirchlichen Bußpraxis) und fassten das Martyrium geradezu als Pflicht auf: eine Flucht davor wurde als Abfall vom Glauben verstanden. Eine ausgesprochen rigide Praxis, die aber, so schwer dies auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar sein mag, von einigem Erfolg gekrönt war: Von Kleinasien (Phrygien, im Süden der heutigen Türkei) ausgehend gewann der Montanismus eine zahlreiche Anhängerschaft und dehnte sich über Syrien und Thrakien bis Nordafrika aus.
    Die Orthodoxie begann eine Phase der Selbstreflexion, die jedoch bald zur Reaktion führte: Man wandte sich von der im Grunde rechtgläubigen Bewegung ab und begann sie zu verleumden und zu verspotten. Bestechlichkeit, Habgier und dämonische Besessenheit wurden ihr vorgeworfen und die Prophetie in Ekstase als „unbiblisch“ verworfen. Der Heilige Geist wirke nicht im Einzelnen, sondern sei der Kirche als Gesamtheit und Institution gegeben.
Eine Frau an der Spitze einer christlichen Bewegung konnte nicht geduldet werden.
    Abseits dieser theologischen Dispute geschah das, was die römische Kirche in Wahrheit nicht dulden konnte: Montanus und Priska starben und Maximilla – eine Frau! – führte die Bewegung weiter. Der Montanismus trug alle Züge einer selbstkasteienden, mönchischen Bewegung, die im Leid den Weg zur Erlösung sah, sie war absolut lust- und lebensfeindlich – aber frauenverachtend war sie nicht.
    Als 179 auch Maximilla starb, ohne dass das angekündigte Weltende eingetreten wäre, war der Montanismus zu einer Neuorientierung gezwungen, die jedoch bravourös bewältigt wurde. 207 trat sogar der Kirchenvater Tertullian der Bewegung bei.
    Immer noch gab es innerhalb der orthodoxen Kirche Versuche, den Montanismus zu integrieren, letztendlich wurde aber die gesamte Bewegung als Häresie verurteilt. Für die Entstehung des Schriftenkanons spielten die vom Montanismus plakativ repräsentierten Strömungen jedoch eine wichtige Rolle. Als (Untergangs)propheten schätzten sie besonders die Texte von Johannes: sein Evangelium, die Apokalypse. Diese Schriften, insbesondere die Offenbarung (Apokalypse), waren innerhalb der Kirche sehr umstritten, um ihre Aufnahme oder Nicht-Aufnahme in den entstehenden biblischen Kanon wurden heftige Auseinandersetzungen geführt. Die schlussendlich gefällte Entscheidung ist maßgeblich vom Montanismus beeinflusst: Sowohl das Johannesevangelium, das im Rahmen der kanonischen Evangelien eine Sonderstellung einnimmt, als auch die Johannesapokalypse fanden Einlass in den Kanon, jedoch keinerlei weitere Offenbarungsschriften.
    Gnostisches Denken
    Weitaus schwerer fassbar als Marcionismus und Montanismus ist die dritte Geistesströmung, die sich direkt auf die Auswahl der Schriften auswirkte: die Gnosis. Schwerer fassbar deshalb, weil darunter keine Weltanschauung oder religiöse Bewegung zu verstehen ist, sondern eine Geisteshaltung, die sich in vielerlei Spielarten und bei den unterschiedlichsten
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