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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Autoren: Akif Pirincci
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Sicherheit den halben Tag in Anspruch nehmen würde, wenn nicht sogar den ganzen. Ja, er sollte schleunigst den Bus nehmen, nach Hause fahren und erst einmal ausschlafen. Und er sollte sich endlich einen Job als Hilfsarbeiter suchen, so wie damals nach dem Abschluß der Akademie. Ein traumhafter Neu start für einen Zweiundvierzigj ährigen! Er war schon auf das Gesicht des Sachbearbeiters auf dem Arbeitsamt gespannt, wenn er ihm auf die Frage, was er denn von Beruf sei, »berühmter Maler« entgegnen würde. Aber vielleicht sollte er lieber eine Buchhandlung aufsuchen und sich dort nach einem Ratgeber für Selbstmordmethoden erkundigen - schmerzfreie Selbstmordmethoden. Dann fiel ihm jedoch ein, daß er ja gar kein Geld mehr besaß, um ein Buch zu kaufen.
    Ali raffte sich auf und wankte trotz guter Vorsätze auf die Lichterscheinung zu. Er bog um die Ecke des Gartenzauns, und exakt wie er es erwartet hatte, stand er an der Schwelle zu einer mit altem, abgewetztem Kopfsteinpflaster verlegten Gasse, welche zu der dahinter liegenden Parallelstraße führte. Sie war sehr eng, keinen Meter breit, so daß sie immer nur ein einzelner passieren konnte. Die Seitenfronten bildeten die vermoderten Ziegelsteinmauern der beiden Nachbarhäuser, die plötzlich so aussahen, als seien sie mal eben auseinandergerückt.
    Die diffuse, leicht flimmernde Helligkeit durchstrahlte die Passage bis in den winzigsten Winkel - es war schwer zu bestimmen, aus welcher Richtung sie überhaupt kam, und Seichtem fühlte sich jetzt wie ein Schauspieler im Rampenlicht, der die Zuschauer selbst nicht sehen kann, obwohl diese sogar erkennen können, wie er eine Augenbraue hebt. Dafür gab es zwei mögliche Erklärungen. Erstens: In diesen Wochen, da der sterbende Winter allmählich die Kontrolle über den Frosthimmel verlor, kam es zu den merkwürdigsten Phänomenen. Insbesondere verursacht durch die Zusammensetzung und Konsistenz der Wolken, welche hier eine kilometerlange dunkle Gleichförmigkeit aufwiesen, da wie mit einem Fanfarenstoß aufrissen und dort wiederum eine ganz dünne Gazeschicht mit den dazugehörigen gespenstischen Diffusionseffekten erzeugen konnten. Zweitens: Die ständige Trinkerei hatte ihm einen Hirnschaden zugefügt oder ein Augenleiden, was auf dasselbe hinauslief, denn Ali hatte seinerzeit in der Akademie beim Studium der menschlichen Anatomie gelernt, daß Augen genaugenommen ein Teil des Gehirns sind. Seine Augen waren defekt, und deshalb reagierten sie in Grenzbereichen der optischen Wahrnehmung dementsprechend. Es war müßig, einer der beiden Theorien den Vorzug zu geben, denn in Seichtems Leben spielten Diffusionseffekte nur noch eine untergeordnete Rolle.
    Im Grunde hätte er nach Hause gehen und den himmlischen Geisterspuk sich selbst überlassen können. Doch man konnte es sich nicht aussuchen, wie man so sagte; das Schicksal war eine Art Schuldenfalle: Befand man sich erst einmal in der Tretmühle des Zins und Zinseszins, mußte man immer weiterlaufen bis zum bitteren Ende. Ali ging in die Gasse hinein, ohne sich den Beweggrund dafür erklären zu können. Langeweile, redete er sich ein, aber in Wahrheit spürte er fast körperlich eine geheimnisvolle magnetische Anziehungskraft, die vom Schlund des Durchgangs ausging, die an ihm zog und zerrte und der er nicht zu widerstehen vermochte. Seine Schritte hallten zwischen den Mauern, und er hörte sein eigenes schnaufendes Atmen gleich einem unheimlichen Rhythmus.
    Je mehr er sich dem Ende der Gasse näherte, desto deutlicher bildete sich in dem Gespinst der Strahlen eine schmiedeeiserne Türe ab. Es handelte sich um eine für diese Altbaugegend charakteristische Gartentür mit barockem Schnörkelmuster, Akanthus-Ornamenten und einer klobigen Klinke in Form eines gewölbten Weinblatts. Ein aus den Seitenpfosten wachsender, ebenfalls vor Blumenranken- und Früchteschwulst überbordender Spalierbogen erinnerte an die Eingänge exklusiver Friedhöfe. Das Eisen hier war allerdings so verrostet, daß man meinte, die rotkrümelige Oberschicht mit dem bloßen Finger abschaben zu können. Ali wunderte sich, daß ausgerechnet eine so schmale Gasse mit einer so kunstvollen Türe abschloß. Weder gab es hier etwas wegzuschließen noch ergab eine Absperrung an diesem erkennbar öffentlichen Ort irgendeinen Sinn.
    Die Fragen wurden plötzlich von etwas noch Unerklärlicherem verdrängt: Das fluoreszierende Wunderlicht hatte sich unversehens verflüchtigt. Es war einfach nicht mehr zu
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