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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Autoren: Akif Pirincci
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sehen, geradeso, als hätte es nie existiert, als wäre es tatsächlich nur eine vorübergehende optische Täuschung gewesen. Ali überlegte, wann das Licht genau verschwunden war, ob beim Passieren der Gassenmitte oder erst, als er an der Gartentüre angelangt war. Er fand darauf keine Antwort. Jedenfalls fiel auf die Straße vor ihm nun wieder das seit Tagen vorherrschende fahle Licht für angehende Selbstmörder.
    Alis Hände zitterten ein wenig, als er die Klinke ergriff und die Tür öffnete. Wie erwartet quietschte sie entsetzlich, und es bedurfte brutaler Rüttelei, damit sie überhaupt aufschwang. Eine neue Übelkeit erfaßte ihn, diesmal jedoch nicht als Folge des Wodkaexzesses, sondern aufgrund eines gewissen Schocks, daß die Tür tatsächlich aufgegangen war. Unbewußt hatte er nämlich gehofft, daß sie abgeschlossen wäre oder der Rost das Schloß so zerstört hätte, daß es sich nicht mehr öffnen ließ. Irgendwie hatte er sich gewünscht, daß diese Tür unpassierbar wäre, eine Barriere für alles, was dahinter lag. Aber ein anderer Teil seines Bewußtseins, vielleicht jener, der auch das Wunderlicht erblickte hatte, war anscheinend williger gewesen - und es war zu spät.
    Er betrat den Bürgersteig und blickte sich zu beiden Seiten um. Nichts unterschied die Straße von der, die er hinter sich gelassen hatte. Ein properes Gründerzeitgebäude neben dem anderen, Stuckfassaden mit Bukranionfriesen, die mit Girlanden verbundene Ochsenschädel darstellten, kostspielig restaurierte Kirschbaumtüren und -fenster, verschwenderisch breite Treppenaufgänge aus Basalt oder Marmor, gepflegte Vorgärten, umzäunt von den gemeingefährlichen Speeren …
    »Ich Idiot!« entfuhr es Seichtem. Denn er erkannte erst jetzt, daß er sich ja in seiner Straße befand. »Ich Idiot!« wiederholte er gleich danach noch lauter. Denn mit einem Mal stellte er fest, daß er sich nicht nur in seiner Straße befand, sondern direkt gegenüber von seinem Haus, das auf der anderen Straßenseite in den traurig verhangenen Himmel ragte. Natürlich war es weder seine Straße noch sein Haus. Nicht mehr. Er war schon vor acht Monaten von hier weggezogen, in sein praktisches Fünfzehnquadratmeterzimmer am Stadtrand, wo er den ganzen Tag so tat, als würde er sich auf ein Comeback vorbereiten, aber in Wahrheit nur trank und sich selbst im tiefsten Suff noch den Kopf über die ausstehende Miete zerbrach. Außer den Trümmerstücken seiner auseinandergeflogenen glorreichen Vergangenheit hatte er in dieser Straße ein totes Kind zurückgelassen, das zu seinen Lebzeiten erst »Mama«, »Papa«, »Wauwau«, »Auto«, »Ja«, vor allem aber so niedlich »Naaaiihn« sagen konnte, daß es einem fast das Herz brach. Zurückgelassen hatte er auch Ida, der eigentliche Motor seines Lebens und seiner Karriere, die Frau, die achtzehn Jahre an seiner Seite gestanden und deren Träume er so gründlich ruiniert hatte, daß sie jedesmal in einen Weinkrampf ausbrach, wenn sie ihn nur sah. Kein Zufall, daß der Scheidungstermin mit dem Tag des Auszugs aus dem Haus zusammenfiel.
    Ach, das war einmal mein Traumhaus gewesen! seufzte Ali stumm, während er wie hypnotisiert auf den alten Kasten starrte. Obwohl er ihm nicht mehr gehörte und obwohl sich darin die schmerzlichsten Dramen seines Lebens abgespielt hatten, durchströmte ihn jedesmal eine melancholische Wärme, wenn er hier vorbeikam. Niemand ahnte das, aber ihm war es immer bewußt gewesen: Dieses Haus, mehrere Millionen wert, stellte in mehrfacher Hinsicht ein Symbol dar. Dafür, daß er trotz der jahrelangen Frotzeleien seiner etablierten Kollegen und der Demütigungen, die man als Mittelloser in einer Wohlstandsgesellschaft einstecken muß, es einmal bis an die Spitze geschafft hatte. Daß es eine unglaubliche Zäsur in seinem Leben gegeben hatte, er ein anderer Mensch geworden war. Daß es wirklich Engel gab, so wie Patrick, der hier das Licht der Welt erblickt hatte - aber nur kurz, ganz kurz an dieser Welt teilhatte, bevor er sich wieder in einen Engel zurückverwandelte. Daß die oberschlauen Zukurzgekommenen ziemlich danebenlagen, wenn sie die Reichen wegen ihres vielen Reichtums des permanenten Überdrusses verdächtigten. Daß es ein Paradies schon vor dem Tode gab, wo man geschützt war gegen alle Unbill der Welt, wo ringsum Frieden herrschte, und wo man an einem sonnendurchtränkten Frühlingstag im Garten plötzlich die Einsicht gewann, daß ohne all das der Tod eigentlich dem Leben
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