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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Autoren: Akif Pirincci
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vorzuziehen sei. Freilich währte diese paradiesische Zeit nicht lange, doch sie war prägend, bestimmte für immer jenen Teil des Hirns, der für den alltäglichen Stimmungsausgleich verantwortlich war, und verfälschte damit das Richtmaß fürs Glücklichsein auf ewig und irreversibel.
    Äußerlich schien das Haus unverändert. Mehr noch, wohl wegen der Überdosis an Nostalgie hatte Seichtem sogar das Gefühl, daß einige Details an der Fassade in den ursprünglichen Zustand vor zehn Jahren versetzt worden wären. Zum Beispiel hatte Ida irgendwann die Fensterbänke mit Zinkblech auskleiden lassen, weil sich auf dem Kalk-Sandstein Moosbewuchs bildete. Jetzt prunkten die schweren Bänke aber wieder ganz unverhüllt. Komisch, das war ihm bei seinen früheren alkoholgetränkten Stippvisiten nie aufgefallen.
    Ali ignorierte die kleinen Irritationen und genoß die Aussicht. Im Gegensatz zu den übrigen Gebäuden in der Gegend, die in der eklektizistischen Pracht des neunzehnten Jahrhunderts schwelgten, besaß sein Haus den schlichten Baustil der niederländischen Gründerzeit. Obgleich innen genauso geräumig wie die prahlerischen Geschwister b auten, begnügte es sich mit einer bescheidenen Stirnseite aus bordeauxroten Klinkersteinen. Allein die großen Konsolbogenfenster, die zungenstreckenden Bocksköpfe unter dem Gesims des ersten Stockwerks, die böse Geister abwehren sollten, und der von botanischer Raffinesse zeugende Vorgarten ließen etwas von der Herrschaftlichkeit im Inneren ahnen. Wuchtige Granitstufen führten zu der mit Schnitzereien von Vogelmotiven verzierten Eichentür. Gleich unter dem Treppenaufbau ging es durch einen engen Seiteneingang in den labyrinthischen Keller, welcher im hinteren Teil in den Garten mündete.
    Ach, das war einmal mein Traumhaus gewesen!
    Ali hatte nur eine einzige Woche gebraucht, um einen Käufer zu finden. Trotzdem war es höchste Zeit gewesen, denn die Monster von der Steuerbehörde standen schon vor der Tür und drohten mit der Zwangsversteigerung. Ein Fabrikant von Landwirtschaftsgeräten, der nun im Ruhestand war und sich um die eigene und um die Gesundheit seiner Frau sorgte und deshalb in Krankenhausnähe in der Stadt wohnen wollte, erwarb Seichtems geplatzten Traum, nachdem er ihn nur ein einziges Mal besichtigt hatte. Dafür machte er es zur Bedingung, daß er und Ida innerhalb von zwei Wochen ausziehen müßten.
    Seichtem fragte sich erneut, wie er bloß hatte verkennen können, daß er zuvor auf einer Parallelstraße gelaufen war. Auch der Alkohol entschuldigte solch dramatische Ausfallerscheinungen nicht. Denn wenn es ein untrügliches Orientierungszeichen gegeben hatte, dann war es der amtliche Waldschrat gewesen. Zehn Jahre lang war dieser Alis schäbiger Nachbar von gegenüber gewesen, der sich mit allen Tricks gewehrt hatte, aus einer für ihn viel zu teuer gewordenen Wohngegend wegzuziehen. Ali mußte gestehen, daß in Wahrheit er selbst es gewesen war, der in einem Anfall von kleinbürgerlichem Denunziantentum das böse Wort vom Schandfleck in die Welt gesetzt hatte. Einmal zu Geld gekommen, mochte er die auf halber Strecke Zurückgebliebenen nicht mehr um sich sehen. Ironie des Schicksals: Der feine Herr war schon längst aus dem Elysium hinauskomplimentiert worden, während das tapfere Schneiderlein des Mietgesetzes weiterhin die Stellung hielt.
    Aber die Gasse ... Und diese Tür, diese Gartentür – war sie schon immer dort gewesen? Ali konnte sich daran erinnern, daß er in den Arbeitspausen manchmal das Atelier verlassen hatte und in den vorderen Teil des Hauses gegangen war, um aus dem Fenster die amüsanten Aktivitäten des amtlichen Waldschrats zu beobachten. Als demonstrativen Beweis seiner naturreinen Gesinnung stutzte der Witzbold zum Beispiel die Hecken in seinem Garten allen Ernstes mit einer Sichel. Oder er ließ seine Kinder im Sommer splitternackt über den Rasen tollen, auch die, die schon zehn oder elf Jahre alt waren. Oder er …
    Nein, diese Tür hatte er nie gesehen, und die Gasse dahinter auch nicht. Allerdings mußte er auch zugeben, daß er früher eigentlich nie die andere Straßenseite betreten hatte. Vermutlich hatte er insgeheim geglaubt, daß er sich dort eine Krankheit zuziehen könne - ein Rückfall-in-die-Armut-Virus. Und von seinem Haus aus war die Tür womöglich gar nicht zu sehen gewesen. War es so? Konnte man tatsächlich zehn Jahre an einem Ort leben, ohne eine derartige bauliche Besonderheit vor der eigenen Haustür zu
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