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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Autoren: Akif Pirincci
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diesem Moment, irgendwann bekommen sie eine Delle und sind kaputt. Sicher hatte er auch Mitleid mit dem Unfallopfer empfunden. Aber der nachhaltigste Eindruck, den er mit nach Hause nahm, war der des im Tod zum kaputten Ding gewordenen Menschen. So intensiv wühlte ihn dieser Gedanke auf, daß er das Gesehene bereits am Nachmittag aus der Erinnerung mehrfach skizzierte und schon fieberhaft mit Ölfarben zu arbeiten begann, als die Party am Abend bereits in vollem Gange war. Das Ergebnis war natürlich wieder ein typischer Seichtem. Naturgetreu wie eine Fotografie und kalt blaustichig. Der einzige Unterschied zu den früheren Gemälden bestand darin, daß es sich bei dem Motiv um eine Tote handelte.
    Gaston, jener Galerist, der ihm in all den erfolglosen Jahren die Stange gehalten hatte und ihm eine Art väterlicher Freund gewesen war, zeigte sich nicht gerade begeistert. Er fand es zu morbid und nur bedingt verkäuflich. Drei Stunden später war er der gegenteiligen Meinung. Er verlangte dringend nach noch mehr »von dem Zeug«, weil das Bild von einem angesehenen Sammler bereits gekauft worden sei.
    Für Ali brach das goldene Zeitalter an. Er verschaffte sich Zugang zu Leichenhäusern und zu Fotoarchiven der Polizei und suchte sich die entsprechenden Modelle aus. Es war nicht einfach. Denn er wollte jeden Anschein des sich in Blut suhlenden Schockmalers vermeiden. Die Grundidee war die der defekt gewordenen Maschine namens Mensch. Deshalb kamen von vornherein keine entstellten Mordopfer oder Verkehrstote mit klaffenden Wunden in Betracht. Als ideal erwiesen sich dagegen bei der Arbeit verunglückte Bauarbeiter mit mehrfachen Brüchen oder an Krebs gestorbene Kinder mit ihren ausgezehrten Gesichtern. Manchmal stellte er die Unglücklichen zu gespenstischen Gruppenbildern zusammen, als wären sie eine Art Familie.
    Obwohl er sich während dieser Zeit intensiv mit dem Tod beschäftigte, fühlte er sich von Tag zu Tag lebendiger, ja geradezu von einer unerschöpflichen Lebensenergie erfüllt. Dieses Lebenselixier hieß Erfolg, und die Quelle dafür sollte in den folgenden zehn Jahren nicht versiegen. Wegen der überwältigenden Nachfrage zog Gaston die Sache in großem Stil auf. Schon bald berichteten die einschlägigen Kunstmagazine, zwischen Unverständnis und Bewunderung schwankend, über den Newcomer. Museen zogen mit Ausstellungen nach. Seichtem wurde der Star der Renaissance der gegenständlichen Malerei. Das Geld floß derart reichlich auf sein Konto, daß er oft nicht wußte, wieviel er gerade besaß, und rasch den Überblick verlor. Er wurde gefeiert, und bereiste zu verschiedenen Ausstellungseröffnungen die Welt. Er stand auf dem Gipfel, und nicht einmal ihm, dem Berufspessimisten, wollte ein Grund einfallen, weshalb das alles irgendwann ein Ende nehmen sollte, noch dazu ein böses.
    Seichtem stolperte.

3
     
    E r hatte schon Sekunden zuvor gespürt, daß er stolpern würde, obwohl sein Instinkt durch den vielen Wodka inzwischen einem Matrosen auf einem sinkenden Schiff glich, der etwas Besseres zu tun hat, als sich um das Wohl des Kapitäns zu kümmern. Die Vorderkante seiner Schuhsohle war auf eine der etwas abstehenden quadratischen Steinplatten des Bürgersteigs gestoßen, und so verlor er das Gleichgewicht und fiel vornüber auf einen niedrigen Gartenzaun. Die eisernen Stäbe verjüngten sich zu scharfen Speerspitzen, und einen Moment lang schoß Seichtem die Frage durch den Kopf, ob so etwas überhaupt erlaubt war.
    Dann stürzte er auf die Speere, und plötzlich hatte er das Gefühl, jemand habe auf die Zeitlupentaste gedrückt, um den Anblick in aller Langsamkeit zu genießen. Er sah sich selbst gemächlich auf die Zaunstäbe fallen, fast schwebend, mit offenem Mund und einem eher verblüfften als entsetzten Ausdruck. Fatalerweise gehorchten seine Arme ebenfalls dieser Trägheit, denn es fiel ihm so schwer, sie hochzureißen, als würden Bleigewichte auf ihnen lasten, und es wollte ihm nicht gelingen, sich mit den Händen vor den Speeren zu schützen. »Vielleicht willst du es so haben«, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
    Überraschend schaltete seine Wahrnehmung wieder auf Normalgeschwindigkeit zurück. Ali schlug mit dem gesamten Gewicht seines Körpers auf dem Zaun auf, rutschte ab, und einer der Stäbe durchbohrte das weiche Fleisch unterhalb der Kinnlade. Die Speerspitze drang durch den Kopf und stieß bis zur Schädeldecke, nachdem sie das Gehirn durchschlagen hatte. Von der Ferne
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