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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums
Autoren: Anne de Witt
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Problem geworden. Der Pfarrer hatte ihn ermahnt, es sei sündhaft, als alleinstehender Mann die eigene Sinnenlust zu erwecken. Jedoch, was hieß da erwecken? Sie schlief ja kaum einen Augenblick! Seine Sehnsucht nach einer Frau war geradezu überwältigend. Kaum eine Nacht verging, ohne dass er besudelt aus feuchten Träumen aufwachte, und untertags hatte er Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Gier ihn quälte. Der Dämon in seinen Lenden ließ ihm keinen Frieden, zu den unpassendsten Zeiten und Gelegenheiten meldete er sich, jede Kleinigkeit weckte ihn aus seinem unruhigen Schlummer.
    Dass er solche Triebhaftigkeit von seinem Vater geerbt hatte, wusste Simeon; auch dessen unehelicher Sohn Godfrid litt unter diesem Erbe. Aber Bartimäus und Godfrid hatten es sich leicht gemacht. Wenn man nicht wählerisch war und keine Skrupel hatte, fanden sich genug Ziegen für zwei unersättliche Böcke. Simeon jedoch war zu unbeholfen, eine Affäre mit all ihrer Leidenschaft, ihrer Heimlichkeit und ihrem Risiko anzufangen, und zu empfindsam, um sich mit irgendeiner Allerweltshure einzulassen. Seine Zurückhaltung hatte beim Vater den Verdacht genährt, er habe kein Interesse an Frauen – was seine Abneigung gegen den aus der Art geschlagenen Sohn verdoppelt hatte.
    Aber Simeon war durchaus interessiert. Er wollte nur nicht einfach irgendeine. Die Frau, von der er träumte, war sauber und ehrbar, und er wollte Brief und Siegel darauf haben, dass er sie zu Recht besitzen durfte. Eine hübsche, freundliche, willige junge Frau ganz für ihn allein – das war für ihn wie Wasser für einen Verdurstenden.
    Er trat an die Kommode heran und nahm das in massives Silber gerahmte Lichtbild in die Hand, das dort an prominenter Stelle stand. Obwohl Mevrouw Beatrix vor zwölf Jahren gestorben war, spannte sich noch immer eine Trauerschleife aus schwarzem Krepp über eine Ecke des Rahmens. Das Lichtbild zeigte eine sehr schöne dunkelhaarige Frau, unverkennbar die Mutter des jungen Mannes, der Zug um Zug ihr Ebenbild war, soweit Männer und Frauen einander gleichen können.
    Sooft der Jüngling das Bild betrachtete – und das tat er oft –, überkam ihn von Neuem der Hass auf seinen Vater. Ihm gab er die Schuld daran, dass die Mutter so jung gestorben war. In der Todesanzeige war von einem tragischen Unfall die Rede gewesen, einem Sturz in eine Glasscheibe, aber der damals zehnjährige Junge hatte alles gesehen. Er war Zeuge gewesen, wie der Vater die kränkelnde Frau, deren Äußeres seinen Glanz verloren hatte, mit höhnischen Worten über ihr Aussehen reizte, bis ihr wildes Temperament mit ihr durchging und sie die geballte Faust in den Spiegel schmetterte. Ein Splitter hatte sich so unglücklich in ihr Handgelenk gebohrt, dass sie verblutet war, ehe Hilfe eintraf.
    Bartimäus hatte den vor Entsetzen wimmernden Jungen angeschrien, es sei nicht seine Schuld, wenn die verrückte Gans sich in einem ihrer Tobsuchtsanfälle selbst umgebracht hatte. Es waren Worte, die jede innere Bindung zwischen Vater und Sohn zerschnitten, wie die Spiegelscherbe die Pulsader der unglücklichen Frau zerschnitten hatte. Bis dahin hatte Simeon, der ein weichherziger und harmoniebedürftiger Junge war, sich bemüht, den Widerwillen seines Vaters zu überwinden. Von diesem Tag an war sein Herz zu Stein geworden, soweit es Bartimäus Vanderheyden anging.
    Als der Alte eines Tages beim Mittagessen eine Fischgräte verschluckte und, in Todesnot röchelnd, blaurot im Gesicht, in entsetzlichen Konvulsionen zuckend auf dem Boden lag, war der damals vierzehnjährige Simeon nicht von seinem Platz am Tisch aufgestanden. Reglos, mit verschränkten Armen hatte er dagesessen und den verzweifelten Rettungsversuchen der Diener zugesehen. Bartimäus, dem man schließlich die Gräte aus dem Hals zog, war sein Verhalten nicht entgangen. Sobald er wieder keuchen konnte, hatte er gesagt: »Du bist der Mörder deines Vaters.« Und sein sanfter, scheuer, weibischer Sohn hatte ihm mit unbewegter Stimme geantwortet: »Du bist der Mörder meiner Mutter, was erwartest du also von mir?«
    Simeon küsste das Bild und stellte es auf die Kommode zurück. Erschöpft von der durchlittenen Aufregung machte er es sich bequem, schlüpfte aus den Schuhen, legte den Leibrock ab und streckte sich auf einer mit tabakbraunem Leder bezogenen Récamière aus. Die massige Hündin nutzte die Gelegenheit, setzte sich vor das Möbelstück und legte ihren Tigerschädel auf seinen
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