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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums
Autoren: Anne de Witt
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aufzuwecken, kämmte ihr mit den Fingern das Haar aus der Stirn. Anna Lisa kehrte allmählich ins Bewusstsein zurück. Keuchend saß sie im Bett, während Elsa eine zweite Kerze entzündete und das Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen. Feuchte Kälte machte sich im Raum breit, untermischt mit den für Hamburg typischen, unauslöschlichen Gerüchen nach Salzwasser, Heizkohle und Fisch.
    Anna Lisa sah sich, von den Spinnennetzen des Albtraums befreit, erleichtert in der vertrauten Umgebung um. Das Zimmer – einst ihr Kinderzimmer, jetzt das »Fräuleinzimmer«, wie die Dienstboten es nannten – umgab sie mit altmodischer, großbürgerlicher Behaglichkeit. Die blakende Kerzenflamme warf ihr Licht über massive Kirschholzmöbel, einen jadegrünen Teppich mit einem eingewebten Muster aus Kirschblüten und die einfallslose Dekoration einer Reihe kolorierter Kupferstiche, die Pfauen, Papageien und andere Ziervögel darstellten. Es war ein Zimmer, in dem sie sich von klein auf wohlgefühlt hatte, und die Tränen sprangen ihr in die Augen bei dem Gedanken, dass sie als Ehefrau hier ausziehen musste. Am liebsten hätte sie einen Mann geheiratet, der bereit gewesen wäre, seinen Wohnort ins Fräuleinzimmer zu verlegen.
    Ein scharfer Geruch nach Äther und Alkohol mischte sich mit der Nachtluft, als Elsa ihr ein Glas Wasser einschenkte, in das sie ein Dutzend Tropfen Hoffmannsgeist träufelte, das Allheilmittel für jedes nur erdenkliche Leiden junger Damen. Dabei plapperte das greise Kindermädchen unaufhörlich mit dem halb zahnlosen Mund vor sich hin. »Mein armes Schätzchen, mein Fräulein, was ist dennpassiert? Sie haben wohl am Abend zu viel von der Hummer-Mayonnaise gegessen! Oder ist es Ihre Verlobung, die Ihnen einen solchen Schrecken einjagt? Da müssen Sie nichts fürchten, Ihr Herr Vater ist ein guter Mann, er wird Ihnen auch einen guten Mann aussuchen, selbst wenn’s der Ausländer wäre … Aber was sage ich da, ich dumme Gans! Nun trinken Sie, mein Kindchen …«
    Langsam kehrte wieder Ruhe im Inneren der jungen Frau ein. Ihre Stimme klang noch ein wenig zittrig, als sie – inzwischen schon beschämt über ihre Ängstlichkeit – erzählte: »Ich hatte einen so grausigen Traum, Elsa. Der Mann, den ich heiraten sollte, war schrecklich … ich weiß, dass er schrecklich war, obwohl ich ihn gar nicht sehen konnte, denn sie hatten sein Gesicht verschleiert …« Plötzlich quollen Tränen unter ihren langen Wimpern hervor. »Wenn der Traum nun die Wahrheit gesagt hat, und mir steht ein Unheil bevor …«
    »Ach wo!« Elsa, die selber vor Aufregung zitterte, so sehr hatte das nächtliche Geschrei ihres Schützlings sie erschreckt, wickelte sich in ihr Umschlagtuch und wedelte mit den Zipfeln, als müsste sie unsichtbare Insekten wegscheuchen. »Ach wo, was redet mein Schätzchen da für einen Unsinn zusammen! Keiner der Herren ist hässlich, gewiss nicht! Sie haben doch die Fotografien gesehen! Alle sind sie groß und schön und … nun, der Kapitän könnte wohl ein wenig größer sein, dafür aber hat er breite Schultern und einen mächtigen Brustkasten, das sieht gut aus bei einem Mann …«
    Die Alte schnatterte weiter, aber Anna Lisa hörte ihr kaum noch zu. Jetzt, wo sie vollkommen erwacht war, wunderte sie sich über den Traum, der so wenig zur Realität passte. Als die mit Abstand jüngste Tochter nach drei strammen Brüdern war sie es gewohnt, in einem Haus voller Männer zu leben, ein Paradiesvögelchen unter kräftigen, kampflustigen Hähnen. Es war ihr nichts Neues, von ihnen beschützt und beherrscht zu werden. Sie hatte keine Angst davor, ihr Leben auch weiterhin einem Mann anzuvertrauen. Tatsächlich kannte sie zwei der Bewerber persönlich, und von zweien, die außer Landes waren – einem Kapitän, der sich zurzeit auf Weltreise befand, und einem holländischen Kaffeehändler –, hatte sie Fotografien gesehen. Keiner der vier hatte irgendwelche starken Gefühle in ihr erweckt, weder der Zuneigung noch des Abscheus. Sie fand, dass sie aussahen, wie Männer eben aussehen, nicht besser oder schlechter als andere – obwohl ihre Freundin Dörte behauptet hatte, der junge Holländer hätte einen Blick wie ein scheuendes Pferd und sei wohl ein wenig verrückt, und der Kapitän könnte mit seiner klobigen Nase einen Nagel einschlagen. Sie hatte unbekümmert darüber gelacht, wie sie über allerlei Mädchengeschwätz lachte.
    Und Elsa hatte recht: Ihr Vater hätte sie niemals
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