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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1
Autoren: franklin
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kannte sogar das Gesicht, aber Gordinus konnte sich Menschen nur anhand ihrer Krankheiten merken.
    »Hämorrhoiden«, sagte er schließlich triumphierend. »Ihr hattet Hämorrhoiden. Wie steht es damit?«
    Mordecai fil Berachyah ließ sich nicht leicht aus der Fassung bringen. Als Sekretär und Vertrauter des Königs von Sizilien und als Hüter der königlichen Geheimnisse konnte er sich das nicht leisten. Er war beleidigt, selbstverständlich – die Hämorrhoiden eines Mannes sollten nicht in aller Öffentlichkeit erörtert werden –, aber sein großes Gesicht blieb teilnahmslos, seine Stimme kühl. »Ich bin hier, um mich zu erkundigen, ob Simon aus Neapel gut abgereist ist.«
    »Abgereist?«, fragte Gordinus interessiert.
    Der Umgang mit Genies war stets schwierig, dachte Mordecai,und wenn die Genialität, wie in diesem Fall, allmählich im Schwinden begriffen war, wurde es nahezu unmöglich. Er beschloss, das Gewicht des königlichen »wir« einzusetzen. »Nach England abgereist, Gordinus. Simon Menahem aus Neapel. Wir schicken Simon Menahem nach England, damit er sich um ein Problem kümmert, das die dortigen Juden haben.«
    Gordinus’ Sekretär kam ihnen zu Hilfe, indem er zu einer Wand voller kleiner Holzfächer trat, aus denen Pergamentrollen wie Röhrenenden ragten. Er sprach aufmunternd wie zu einem Kind. »Ihr werdet Euch erinnern, Herr, wir hatten doch ein königliches Schreiben … ach du Schreck, er hat’s woanders hingetan.«
    Das würde dauern. Lord Mordecai trottete schwerfällig über den Mosaikboden, der angelnde Amorfiguren darstellte; römisch, mindestens tausend Jahre alt. Das hier war einmal eine von Hadrians Villen gewesen.
    Diese Mediziner ließen es sich gut gehen. Mordecai überging die Tatsache, dass sein eigener Palazzo in Palermo mit Böden aus Marmor und Gold ausgestattet war.
    Er setzte sich auf die Steinbank, die entlang einer offenen Balustrade verlief, und blickte hinunter auf die Stadt und das türkisfarbene Tyrrhenische Meer dahinter.
    Gordinus, immerhin noch der allzeit aufmerksame Arzt, sagte: »Seine Lordschaft wird ein Kissen benötigen, Gaius.«
    Ein Kissen wurde gebracht. Ebenso Datteln. Und Wein, woraufhin Gaius unsicher fragte: »Ist das genehm, Mylord?« Die Entourage des Königs setzte sich ebenso wie das Königreich Sizilien und Süditalien aus so vielen Glaubensrichtungen und Rassen zusammen – Arabern, Lombarden, Griechen, Normannen und, wie in Mordecais Fall, Juden –, dass eine dargebotene Erfrischung leicht ein Verstoß gegen irgendeine religiöse Essensvorschrift sein konnte.
    Seine Lordschaft nickte; er fühlte sich besser. Das Kissen war eine Wohltat für sein Hinterteil, die kühle Brise vom Meer erquickte ihn, der Wein war gut. Er sollte sich nicht durch die Unverblümtheit eines alten Mannes beleidigt fühlen. Ja, wenn die offizielle Angelegenheit geklärt war, würde er sogar selbst das Gespräch auf seine Hämorrhoiden bringen. Letztes Mal hatte Gordinus sie auch kuriert. Immerhin war er hier in der Stadt der Heiler, und falls irgendwer praktisch als Oberhaupt dieser hervorragenden Medizinschule gelten konnte, dann war das Gordinus der Afrikaner.
    Er beobachtete, wie der alte Mann vergaß, dass er einen Gast hatte, und sich wieder dem Manuskript widmete, das er zuvor studiert hatte. Er sah die schlaffe braune Haut an dem Arm, den der Arzt ausstreckte, um die Feder in seiner Hand in Tinte zu tauchen und eine Änderung vorzunehmen. Was war er? Tunesier? Maure?
    Bei seiner Ankunft in der Villa hatte Mordecai den Majordomus gefragt, ob er vor dem Eintreten die Schuhe ausziehen solle: »Ich habe vergessen, welchen Glauben Euer Herr hat.«
    »Er auch, Mylord.«
    Nur in Salerno, so dachte Mordecai jetzt, vergessen Männer über der hingebungsvollen Pflege der Kranken ihre Manieren und ihren Gott.
    Er wusste nicht recht, ob er das gutheißen konnte. Immerhin wurden ewige Gesetze gebrochen, tote Körper seziert, Frauen von lebensbedrohenden Föten befreit, dem Weibervolk wurde erlaubt zu praktizieren und der Leib vom Chirurgenmesser durchdrungen.
    Sie kamen zu Hunderten, Menschen, die vom Ruf Salernos gehört hatten und, entweder selbst krank oder mit kranken Angehörigen, Wüsten, Steppen, Sümpfe und Gebirge überwanden, weil sie hier auf Heilung hofften.
    Mordecai blickte hinunter auf das Labyrinth aus Dächern, Türmen und Kuppeln, während er seinen Wein trank, und wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, dass ausgerechnet diese Stadt, nicht Rom,
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