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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1
Autoren: franklin
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fragend einen Baum, ein Fleckchen Gras: Wie heißt du? Wofür bist du gut? Und wenn nicht, warum nicht? Wie ein Magister am Hofe. Oder eine Närrin.
    Auf dem breiten Streifen zwischen uns und all diesen Menschen (selbst an der Great North Road, selbst jetzt, im Jahre 1171, darf kein Baum weniger als einen Bogenschuss von der Straße entfernt wachsen, damit sich keine Wegelagerer in der Nähe verstecken können) steht ein kleiner Schrein am Wegesrand,die übliche, von fleißigen Händen gezimmerte Schutzhütte für die Heilige Jungfrau.
    Einige der Reiter wollen mit einer Verbeugung und einem »Gegrüßet seist du Maria« vorbeireiten, doch die Priorin tut sich wichtig, indem sie nach einem Reitknecht ruft, der ihr beim Absteigen helfen muss. Sie schleppt sich schwerfällig über das Gras, kniet nieder und betet. Laut.
    Nacheinander gesellen sich die Übrigen mit einigem Widerwillen dazu. Prior Geoffrey verdreht die Augen und ächzt, als ihm vom Pferd geholfen wird.
    Sogar die drei von dem Planwagen sind abgestiegen und knien jetzt, obwohl der dunklere der beiden Männer, der im Hintergrund kaum auffällt, seine Gebete eher gen Osten zu richten scheint. Gott stehe uns bei, wenn Sarazenen und andere Gottlose ungestraft über die Straßen von Henry II ziehen dürfen. Lippen raunen Gebete, an die Heilige gerichtet, Hände schlagen unsichtbare Kreuze. Gewiss weint Gott, und doch lässt Er zu, dass die Hände, die sich an unschuldigem Fleisch vergingen, unbefleckt bleiben.
    Der Reiterzug sitzt wieder auf, zieht weiter und verschwindet um die Biegung Richtung Cambridge. Das Geplapper verklingt, und wieder hören wir nur noch das Rumpeln der Bauernkarren und Vogelgezwitscher.
    Aber jetzt halten wir ein Knäuel in der Hand, dessen Faden uns zu dem Kindermörder führen wird. Um es zu entwirren, müssen wir zunächst zwölf Monate rückwärts in die Zeit reisen …

Kapitel Eins
    E NGLAND , 1170

    E in Jahr der Schreie.
    Ein König schrie, man möge ihn von seinem Erzbischof erlösen. Die Mönche von Canterbury schrien, als Ritter das Gehirn des besagten Erzbischofs auf die Steinplatten seiner Kathedrale spritzen ließen.
    Der Papst schrie, besagter König müsse Buße tun. Die englische Kirche schrie im Triumph – jetzt hatte sie besagten König genau da, wo sie ihn haben wollte.
    Und weit weg in Cambridgeshire schrie ein Kind. Ein dünner blecherner Klang, dieser Schrei, aber auch er würde seinen Platz unter den anderen finden.
    Am Anfang lag Hoffnung in dem Schrei: Kommt und holt mich, ich habe Angst. Bis dahin hatten Erwachsene den Kleinen vor Gefahren bewahrt, hatten ihn von Bienenstöcken und brodelnden Töpfen und dem Feuer in der Schmiede weggetragen. Sie
mussten
einfach gleich kommen, so wie sie es immer getan hatten.
    Bei dem Klang hoben Rehe, die auf der mondbeschienenen Wiese ästen, die Köpfe und blickten sich um. Aber es war keines ihrer Jungen, das sich da fürchtete, also ästen sie weiter. Ein Fuchs verharrte in seinem Lauf, eine Pfote in der Luft, um zu lauschen und abzuschätzen, ob er selbst in Gefahr war.
    Die Kehle, die den Schrei ausstieß, war zu klein und der Ort zu abgelegen und einsam, um ein menschliches Ohr zu erreichen. Der Schrei veränderte sich: Er wurde ungläubig, war so hochauf der Skala des Erstaunens, dass er wie der schrille Pfiff eines Jägers klang, der seine Hunde dirigiert.
    Die Rehe flüchteten in alle Richtungen zwischen den Bäumen, und ihre weißen Wedel sahen aus wie Dominosteine, die ins Dunkel purzelten.
    Jetzt war der Schrei ein Flehen, das sich vielleicht an den Peiniger richtete, vielleicht an Gott, bitte nicht, bitte nicht, ehe er zu einem einförmigen Ton der Qual und Hoffnungslosigkeit zusammenfiel.
    Die Luft war dankbar, als das Geräusch endlich verstummte und sich die üblichen Klänge der Nacht wieder durchsetzten. Das Rascheln des Windes in den Büschen, das Knurren eines Dachses, die unzähligen Schreie kleiner Säugetiere und Vögel, die in den Fängen ihrer natürlichen Feinde starben.

    In Dover wurde ein alter Mann hastig durch eine Burg geführt, schneller, als es sein Rheuma erlaubte. Es war eine riesige Burg, sehr kalt, und in ihren Mauern hallten wilde Geräusche. Trotz seiner raschen Schritte blieb dem alten Mann kalt – denn er hatte Angst. Der Hofmeister brachte ihn zu einem Mann, der allen Angst machte.
    Sie gingen über lange, steinerne Korridore, mitunter an offenen Türen vorbei, aus denen Licht und Wärme, Stimmengewirr und die Klänge einer
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