Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
mal hinlegen. Leiht uns euren Wagen, im Namen Gottes.«
    Der ganze Reiterzug hatte verfolgt, wie er mit seinen Mönchsbrüdern darüber stritt, wo ihr Prior seine letzten Minuten auf Erden verbringen sollte, wobei den beiden anderen der offene Reisekatafalk der Priorin oder sogar der nackte Boden lieber gewesen wäre als der Planwagen der heidnisch wirkenden Händler.
    Die schwarz gekleideten Menschen auf der Straße umringten den vor Schmerzen taumelnden Prior und setzten ihm mit ihren Ratschlägen zu wie Krähen, die einen Kadaver umflattern. Die kleine Nonne der Priorin drängte ihm einen Gegenstand auf. »Der Fingerknochen des Heiligen, Mylord. Legt ihn noch einmal auf, ich bitte Euch. Diesmal wird seine wundertätige Kraft …«
    Ihre leise Stimme wurde fast überdeckt von den lauten Beschwörungen des Klerikers, der Roger aus Acton genannt wurde und den armen Prior schon seit Canterbury wegen irgendetwas bestürmte. »Der wahre Fingerknochen eines wahren gekreuzigten Heiligen. Ihr müsst nur glauben …«
    Selbst die Priorin legte eine gewisse Besorgnis an den Tag. »Aber Ihr müsst inniger beten, wenn Ihr ihn auf den leidenden Körperteil auflegt, Prior Geoffrey, dann wird der Kleine St. Peter schon das seine tun.«
    Letztlich wurde die Angelegenheit vom Prior selbst geklärt, der sich, wie zwischen gebrüllten Flüchen und Schmerzensschreien herauszuhören war, sonst wohin wünschte, und sei es noch so heidnisch, Hauptsache weg von der Priorin, weg von dem verdammten, lästigen Kleriker und dem übrigen Gesindel, das neugierig seine Todesqualen begaffte. Er gebe hier, wie er mit einigem Nachdruck klarstellte, keine verdammte Gauklervorstellung. (Einige vorbeikommende Bauern waren bei dem Reiterzug stehen geblieben und sahen sich interessiert die Verrenkungen des Priors an.)
    Dann eben der Wagen der fahrenden Händler. Und so wandte sich der junge Mönch in normannischem Französisch an die Männer auf dem Wagen und hoffte, dass sie ihn verstehen würden – bis dahin hatte er die beiden und die Frau, die sie begleitete, nur in einer fremdartigen Sprache schwatzen hören.
    Einen Moment lang schienen sie ratlos. Dann sagte die Frau – ein schlampiges junges Ding: »Was hat er denn?«
    Der Mönch verscheuchte sie. »Verschwinde, Mädchen, das geht Frauen nichts an.«
    Sie wandte sich ab, und der kleinere der beiden Männer sah ihr besorgt hinterher, doch dann sagte er: »Natürlich … äh?«
    »Bruder Ninian«, sagte Bruder Ninian.
    »Ich bin Simon aus Neapel. Dieser Herr hier heißt Mansur. Natürlich, Bruder Ninian, natürlich steht Euch unser Wagen zur Verfügung. Was quält denn den armen heiligen Mann?« Bruder Ninian erzählte es ihnen.
    Der Gesichtsausdruck des Sarazenen veränderte sich nicht, wie vermutlich niemals, doch Simon aus Neapel war voller Mitgefühl. Etwas derart Schlimmes wollte er sich gar nicht erst vorstellen. »Möglicherweise können wir noch mehr behilflich sein«, sagte er. »Meine Begleitung kommt von der Medizinschule in Salerno …«
    »Ein Arzt? Er ist Arzt?« Der Mönch war schon losgelaufen und rief seinem Prior und der Menschenmenge entgegen: »Sie kommen aus Salerno. Der Braune ist Arzt. Ein Arzt aus Salerno.« Schon der Name allein hatte heilende Wirkung, denn jeder kannte ihn. Und dass die drei aus Italien kamen, erklärte ihre Fremdartigkeit. Wer wusste denn schon, wie Italiener aussahen?
    Die Frau kehrte zu den beiden Männern auf dem Wagen zurück.
    Mansur musterte Simon mit einem seiner Blicke, eine gemächliche Form optischen Auspeitschens. »Unser Plappermaul hier hat gesagt, ich wäre ein Arzt aus Salerno.«
    »Habe ich das gesagt? Habe ich das gesagt?« Simons Arme flogen in die Luft. »Ich habe nur gesagt, meine Begleitung …« Mansur richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau. »Der Ungläubige kann nicht pinkeln«, erklärte er.
    »Armer Kerl«, sagte Simon. »Schon seit elf Stunden nicht. Er sagt, er platzt gleich. Könnt Ihr Euch das vorstellen, Doktor? In seinen eigenen Säften zu ertrinken?«
    Sie konnte es sich vorstellen. Kein Wunder, dass der Mann nicht mehr wusste, wo er sich lassen sollte. Und er würde platzen, zumindest seine Blase. Ein Männerleiden; sie hatte es auf dem Seziertisch gesehen. Gordinus hatte bei einem solchen Fall eine Obduktion vorgenommen, aber er hatte gesagt, der Patient hätte gerettet werden können, wenn … wenn … ja, genau. Und ihr Ziehvater hatte davon gesprochen, dass er die gleiche Behandlung in Ägypten gesehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher