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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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    »Calmati, Maria, beruhige dich, nicht so laut.«
    »Ist doch wahr … !«, schimpfte die Frau weiter. »Alle wollen sie das große Geld, und zwar möglichst schnell. Der eine verkauft in den Schulen Drogen, der andere steht Schmiere …«
    »Wenn es genug Arbeit gäbe, käme keiner von den Jungs auf dumme Gedanken.«
    »Das sagst du.«
    »Ja, das sage ich.«
    Eine ältere Frau legte stumm die Hände gegeneinander und sandte flehentliche Blicke gen Himmel.
    »Du glaubst doch nicht, dass die zwei da drüben einer anständigen Arbeit nachgegangen sind, das ist denen doch zu mühsam, in die Fabrik zu gehen und sich ans Band zu stellen … Neinneinnein, die wissen selbst am allerbesten, weshalb es sie erwischt hat!«
    »Welche Fabrik, he, welche Fabrik?! Siehst du hier in der ganzen Gegend irgendeine Fabrik?«
    »Ha ragione«, sagte eine andere Frau in einer Kittelschürze mit hellblauen Blümchen und nickte Sonja auffordernd zu. »Ha ragione. Oder etwa nicht?«
    Sonja nickte, ohne zu wissen, wem sie damit Recht gab. Wahrscheinlich allen. »Die machen unsere Kinder mit Drogen kaputt und fahren dicke Motorräder, die sie von ihrem dreckigen Geld kaufen, der Sohn von … «
    »Enzo, zitto!«, zischte seine Frau und schob den Sprecher unsanft in den Hauseingang. »Managgia, nicht so laut!!«
    »Und die Polizei?«, rief ein anderer Mann herausfordernd. »Was tut die Polizei?«
    Der Mann namens Pasquale verscheuchte zwei Gassenjungen, die angefangen hatten, unter lautem Scheppern eine Blechdose über das Pflaster zu kicken.
    »Die kassieren jeden Monat dicke Gehälter und sehen ansonsten zu, dass sie aus der Schusslinie bleiben«, bemerkte ein junger Mann lakonisch. »Wie hieß das neulich so schön? Der Innenminister schickt zehntausend Polizisten nach Neapel … Die müssen es sich unterwegs anders überlegt haben … Oder habt ihr nachts hier schon mal eine Streife gesehen?«
    »Du hast doch nachts deine Augen sowieso ganz woanders«, rief einer. Lautes Gelächter.
    »Peppino, si mangia!«, erscholl eine Stimme aus dem Inneren einer Wohnung. Essen ging vor. Der junge Mann verschwand im Hausflur.
    Sonja erkundigte sich bei der Frau in der Kittelschürze, was eigentlich genau passiert sei.
    Die Frau musterte sie mit wachsamem Misstrauen. Offenbar hatte sie sofort herausgehört, dass Sonja keine Einheimische war. »Woher kommen Sie? Francia?«
    »Nein, ich bin Deutsche.«
    »Ah, tedesca, brava.« Ihre Miene hellte sich auf.
    Sonja hatte nicht die geringste Ahnung, was gegen die Franzosen vorlag, außer dass sie bei den Fußballmeisterschaften der letzten Jahrzehnte vielleicht einmal zu oft gegen die Italiener gewonnen hatten. Oder gab es hier in Neapel andere uralte Ressentiments gegen die Nachfahren Napoleons?
    »Unser Kühlschrank kommt aus Deutschland«, sagte die Frau. »Miele. Gute Ware. Tipptopp. Läuft seit zwanzig Jahren, ohne einmal aufzumucken.«
    »Che vuoi, la Germania funziona«, kommentierte ihr Mann. »Das war schon immer so. Ma l’Italia, Napoli …« Er machte eine abfällige Geste mit der Hand. »Korrupte Politiker, korrupte Gesellschaft, einige wenige profitieren, und die meisten …« Er zeigte auf eine der Quergassen. »Wenn Sie da lang gehen, sehen Sie noch die alten, längst verrosteten Gerüste, die die Häuser abstützen und zwar seit dem Erdbeben! Seit einem Vierteljahrhundert, um genau zu sein. Die Häuser wurden nie repariert, und die Gelder aus Rom, Abermilliarden Lire, sind spurlos futsch, versickert im Dunkel der …«
    »Euro«, unterbrach ihn seine Frau, »wir rechnen jetzt in Euro …«
    »Mein Sohn lebt in Stoccarda.« Der Mann am Fenster wechselte das Thema. »Stuckard. Bella, Stoccarda. « »Sì. Sehr schön.« Sonja kannte Stuttgart nur vom Hörensagen, aber sie lächelte zustimmend.
    »Bei euch gibt es wenigstens Arbeit«, der erste Mann ließ nicht locker. »Da muss niemand kriminell werden, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
    Einen Augenblick war Sonja versucht, das Bild zurechtzurücken und zu sagen, dass auch in Deutschland in den letzten Jahren zigtausend Arbeitsplätze verloren gegangen waren und Betriebe haufenweise in Konkurs gingen oder ihre Produktion nach Rumänien, Polen, Tschechien verlagerten und dass die Kriminalitätsrate vor allem in den Großstädten in die Höhe geschossen war – aber dann kam es ihr idiotisch vor, fehl am Platze. Hier ging es nicht um vergleichsweise kuschlige Fragen wie Wellness oder Eigenheimzulagen, das sah man dem gescheiterten
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