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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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sich in die Luft schraubende Spiralen, auf denen ursprünglich wohl Schaukeltiere montiert waren; die Halterung für eine Wippe, die jetzt vielleicht anderswo als langer Tisch diente; eine Reihe ehemals weißer, mit Neonfarben besprühter Pflanzgefäße, die offenbar nur deshalb nicht geklaut oder demoliert worden waren, weil sie aus Beton bestanden. Der Ort des Miteinander – ein Ort des Vandalismus.
    So oder ähnlich würde Sonja die Reportage über solch ein Pflaster betitelt haben. Sie hätte über die Kinder und Jugendlichen geschrieben, die hier wohnten, über ihre Eltern, wie sie ihr Geld verdienten, über Arbeitslosigkeit und Perspektivenflaute und gescheiterte, in Aggressionen umgeschlagene Hoffnungen. Leichen waren dabei nicht vorgesehen. Aber auch die Reportage war nicht vorgesehen; diese Ödnis hier hatte in der Tat nichts mit Sweet Home zu tun.
    Damals, als Sonja mit dem Journalismus anfing und das erste Praktikum bei einem Wochenblatt in Bergedorf bekam, war sie voller Elan gewesen. Zeitungsschreiber sollten aufklären, Hintergründe aufdecken, Verhältnisse analysieren, über die vergessenen Menschen und Orte der Welt berichten. Stattdessen hatte sie Kochrezepte zusammenstellen und einen Artikel über Schrebergärten schreiben müssen, der ihr zu drei Vierteln zusammengestrichen wurde. Mit Luzie im Schlepptau waren dann die restlichen Illusionen zerstoben. Pragmatik war angesagt. Geldverdienen. Was das betraf hatte das rabiate Kürzen der Artikel Sonja sogar vorangebracht. Nach dem Wochenblatt war sie für ein Jahr bei einer Fernsehzeitschrift gelandet und nach diversen Zwischenstationen in der Redaktion von Sweet Home. Auf der vergleichsweise sicheren Seite des Lebens.
    Irritiert sah sie sich um. Eine sonderbare Stimmung lag in der Luft, wie ein kollektiver Sud aus Protest und Resignation, Entsetzen und Gleichmut, Aufschrei und gleichzeitigem Verstummen – große Gefühle, die sich gegenseitig in Schach hielten und zu annullieren versuchten. Übrig blieb der Eindruck, als sei eigentlich gar nichts Besonderes passiert, als sei nur kurz der Tod vom Himmel herabgefahren oder aus der Hölle heraufgestiegen, um sich zwei neue Opfer zu holen – ein Achselzucken, da kann man nichts machen.
    Ein paar Schritte entfernt standen mehrere Leute aus dem Viertel zusammen. Ein älterer, ziemlich dicker Mann brummte halblaut, doch für Sonja verständlich genug: »Sollen sie sich doch alle gegenseitig umbringen. Dann haben wir endlich Ruhe.«
    Ein anderer Mann winkte ab: »Unmöglich. Es sind viel zu viele.«
    »Centocinquantadue«, sagte ein jüngerer Mann mit ausdrucksloser Stimme.
    »Was soll das sein, hundertzweiundfünfzig, die neue Buslinie in den Himmel?«
    Irgendwer rief: »Neue Tombolazahlen! Todsichere Sache!«
    Ein Mann lachte. »Da hast du Recht, todsicher ist es …«
    »Letzte Woche war im Mattino die Rede von hundertfünfundfünfzig! «
    Eine jüngere Frau mit Kleinkind auf dem Arm, die in einem Hauseingang stand, mischte sich ein: »Im Telegiornale haben sie was von hundertachtzig Toten gesagt.«
    Der erste Mann zuckte die Achseln: »Nichts als Zahlen. Eine so gut und so falsch wie die andere. Dann nehmen wir eben die Mitte, das wären dann … hundertachtundsechzig. «
    »Hehe, Pasquale, wo hast du denn rechnen gelernt?«, höhnte der zweite.
    »In derselben Schule wie du, Klugscheißer. In der Schule des Lebens.« Die beiden lachten mit rauen Stimmen.
    »E chi se ne frega«, brummte ein vierter Mann, der seinen Kopf aus einer Wohnung im Erdgeschoss steckte, sozusagen Parkett erste Reihe. »Hundertzweiundfünfzig, hundertfünfundfünfzig, hundertachtundsechzig und wenn es der tausendeinhundertdreiundsiebzigste wäre!« Er spuckte aus. »Nachwachsen würden sie trotzdem. Wie die Arme einer Krake. Wenn du zwei davon abschlägst, wachsen sofort vier neue nach. Da kann man nichts machen. Gar nichts.«
    Einige Leute, die zugehört hatten, machten zustimmende Gesten. »Hier muss jeder sehen, wie er über die Runden kommt«, sagte eine Frau.
    »Man muss sich überall auf der Welt arrangieren«, ergänzte der Mann namens Pasquale.
    »Wie denn, wo denn, was heißt hier arrangieren«, mischte sich eine zweite Frau ein, »dass ich nicht lache, du bist allein, du kannst gut reden, du arrangierst dir dein Leben nach Belieben, aber zieh du erst mal sechs Kinder groß und finde für sie eine Arbeit, eine anständige Arbeit, für die sie anständiges Geld bekommen, kein dreckiges Geld, an dem Blut klebt von …
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