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Die Toten befehlen

Titel: Die Toten befehlen
Autoren: Vincente Blasco Ibañez
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Wagen die Höhe erreicht hatte, stieß der kleine Jaime einen Schrei des Entzückens aus, so wunderbar war dieser Garten der Hesperiden, der sich zu seinen Füßen ausdehnte. Mit dunklen Pinienwäldern bedeckte Berge, deren Gipfel in Nebelkappen eingehüllt waren, säumten zu beiden Seiten das weite Tal ein. Das kleine Städtchen lag mitten in Orangengärten, die sich bis zum Meer hinzogen. Der Frühling kam hier über Nacht mit einer Überfülle von Duft und Farben. Sogar die baufälligen Hütten der kleinen Bauern verbargen ihre Armseligkeit unter dichten Vorhängen von Kletterrosen.
    Von allen Dörfern der Umgebung strömte die Landbevölkerung zusammen, um das Fest von Soller zu feiern. Die »Dulcaina« ertönte und rief zum Tanz. Von Hand zu Hand reichte man sich die Gläser mit dem süßen Branntwein von Mallorca und dem Wein von Bañalbufar. Es war das Friedensfest nach tausendjährigemKrieg, nach unaufhörlichen Kämpfen gegen Ungläubige und Piraten, gleichzeitig auch eine Feier zur Erinnerung an den Sieg, den die Einwohner von Soller über eine türkische Korsarenflotte im XVI. Jahrhundert davongetragen hatten.
    Den Höhepunkt der Festlichkeiten bildete eine Seeschlacht im Hafen. Die Fischerbarken dienten als Galeeren. Ein Teil der Fischer, in der Tracht türkischer Piraten, griff mit alten Donnerbüchsen, Schwertern und Enterhaken die christliche Flotte an. Nach langem Kampfe gelang es, die Korsarenschiffe in die Flucht zu schlagen und auch den Rest der Piraten, die gelandet waren, gefangenzunehmen.
    Wenn das Fest beendet und Soller zu seiner friedlichen Ruhe zurückgekehrt war, verbrachte der kleine Jaime die Tage mit Spaziergängen in den Orangengärten unter der Obhut von Antonia, jetzt Madó Antonia genannt. Damals war sie ein frisches, junges Ding mit blitzenden Zähnen und rundem Busen, dem die Bauern nachsahen. Häufig gingen die beiden auch zum Hafen, um die Segelschiffe zu beobachten, die Orangen für Marseille luden. Spät am Nachmittag kehrten dann die Fischerbarken heim. Der Fang wurde in den offenen Schuppen aufgehängt: riesengroße Fische, Rochen und Polypen, die Jaime ein wenig Angst einflößten ...
    Er liebte den Hafen. Hier erzählte ihm Antonia alte Romanzen im Dialekte von Mallorca. Manche waren mit Soller eng verknüpft, wie die Sage vom heiligen Raimundo von Peñafort. Dieser tugendhafte Mönch wurde vom König Don Jaime von Mallorca, dem er sein lasterhaftes Leben vorwarf, verfolgt. Um sein Entkommen zu verhindern, hatte der König alleSchiffe der Insel gesperrt. Der Heilige kam auf seiner Flucht nach dem einsamen Hafen von Soller, breitete seinen Mantel auf dem Wasser aus, nahm den Pilgerstab als Mast und seine Kapuze als Segel. Der Wind Gottes trug das seltsame Fahrzeug über das Meer nach Barcelona. Der Wächter, auf dem Turme von Montjuich erblickte es zuerst und verkündigte seine Ankunft durch eine Fahne. Laut ertönten die Glocken von La Seo, und das Volk eilte zur Hafenmauer, um den Heiligen zu empfangen.
    Wenn der kleine Jaime noch mehr erfahren wollte, rief Antonia die alten Fischer herbei; sie zeigten ihm dann den Felsen, auf dem der Heilige die Hilfe Gottes angerufen hatte, bevor er sich aufs Meer begab.
    Jaime erinnerte sich der andächtigen Schauer, mit denen er diesen Erzählungen gelauscht hatte. Soller bedeutete für ihn die unschuldige Kindheit, Geschichten von Wundern und Gedächtnisfeiern heroischer Kämpfe ...
    Die Mondvilla hatte er für immer verloren, ebenso die Gläubigkeit und die Unschuld jener Zeit.
    Der Wagen bog jetzt ein in den Weg nach Valldemosa. Hier war er nur zweimal gewesen, um zusammen mit einigen Freunden das Karthäuserkloster zu besuchen. Er erinnerte sich der berühmten, uralten Olivenbäume, deren phantastische Formen so vielen Malern als Modell gedient hatten. Das Gelände stieg an, der Boden wurde felsig. Um die Steigungen zu überwinden, führte der Weg zwischen dichten Baumgruppen in Serpentinen aufwärts. Die ersten Olivenbäume erschienen.
    Febrer kannte sie, trotzdem empfand er die Sensation des Ungewöhnlichen, als sähe er sie zum erstenMale. Sie trugen nur wenig Laub. Ihre schwarzen geborstenen Stämme hatten einen riesigen Umfang, der noch vergrößert wurde durch enorme Wülste. Die Bäume waren Hunderte von Jahren alt und nie beschnitten worden. Der Saft konnte nicht mehr bis zu den Zweigen emporsteigen, sondern blieb im Stamm, der alle Kraft in sich aufsog und ständig stärker wurde. Die ganze Landschaft machte den Eindruck
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