Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote
Autoren: Marion
Vom Netzwerk:
Charlotte trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Aber vielleicht hatte sie ja auch einen guten Grund, nicht zu schreien. Vielleicht hat sie sich versteckt.«
    Die anderen nickten.
    »Seltsam«, murmelte Charlotte, »mehr als seltsam. Wo sollen wir jetzt nach diesem Kind suchen?«
    Sie stand auf. »Wir werden uns morgen mit dem Jugendamt unterhalten. Vielleicht können die uns weiterhelfen. Außerdem veröffentlichen wir das Bild der jungen Frau. Darum kümmerst du dich bitte, Thorsten. Irgendjemand wird sich doch an eine Frau erinnern, die nachts nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Innenstadt läuft, auch wenn dort um die Uhrzeit tote Hose ist. Außerdem werden wir uns morgen alle Wedels Bericht vornehmen.«
    Als Charlotte um kurz vor sieben ihre Wohnungstür aufschloss, stutzte sie. Irgendetwas war anders als sonst. Sie stand in der offenen Tür und horchte. Die Wohnzimmertür war geschlossen, und offensichtlich lief der Fernseher nicht. Das war sonderbar, denn der war in den letzten Wochen seit Bergheims Malheur, wie Charlottes es heimlich nannte – Bergheim nannte es verdammtes Pech –, ständig in Betrieb gewesen.
    Jan, ihr Stiefsohn, war anscheinend noch nicht zu Hause, denn seine Zimmertür stand offen, und das tat sie nicht, wenn er sich in seiner Höhle aufhielt. Meistens war er auch nicht allein. Charlotte hatte aufgehört, sich Gedanken darüber zu machen, was der Bengel da alles trieb, wenn eine von seinen Freundinnen bei ihm übernachtete. Sie hoffte nur, dass sie über achtzehn waren und – von Alkohol mal abgesehen – nicht mit Drogen herumexperimentierten.
    Sie schloss die Wohnungstür und schnüffelte. Jetzt wusste sie, was anders war. Es roch – nein, es duftete – nach Backwerk. Das hatte es in dieser Wohnung noch nie getan, denn weder sie noch Bergheim hatten Zeit zum Backen. Nicht mal Kekse zu Weihnachten hatte man in diesen vier Wänden jemals zubereitet. Jedenfalls nicht, seit sie hier wohnte. Charlotte ging in die Küche, sah sich um und schluckte. Anscheinend hatte Rüdiger endlich eine Beschäftigung gefunden. Die Küche war blitzblank und in der Röhre steckte … ein Streuselkuchen. Und unter den Streuseln versteckte sich irgendein rotes Obst, Kirschen oder Johannisbeeren.
    »Rüdiger!«, rief sie, ging zum Wohnzimmer und riss die Tür auf.
    Was sie sah, verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Auf dem Ledersofa lag Rüdiger und schien zu schlafen, und in dem Sessel daneben saß ihre Mutter. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen, klappte leise das Buch zu, in dem sie gerade gelesen hatte, und kam auf Zehenspitzen auf ihre Tochter zu. Sie schob Charlotte in den Flur und schloss die Tür.
    »Mama …«, stotterte Charlotte, »wie … was …?«
    »Kind«, flüsterte ihre Mutter, nahm ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Dabei drückte sie die Wangen ihrer Tochter derart zusammen, dass Charlotte einen Schmollmund bekam, was sie hasste, schon immer gehasst hatte.
    »Mama«, flüsterte sie ungehalten, »wo kommst du denn her?« Dann zog sie die Stirn kraus. »Ist Papa auch hier?«
    »Komm«, sagte Mama, »lass uns in die Küche gehen, dein Mann … äh … oder dein Lebensgefährte schläft. Wir sollten ihn nicht wecken, er braucht sicher die Ruhe.«
    »Allerdings«, schnaubte Charlotte, die argwöhnte, dass Rüdiger sich tot stellte.
    In der Küche sah Mutter Wiegand zuerst nach dem Kuchen, der herrlich duftete. Dann nahm sie ein Glas, füllte es mit Leitungswasser und trank. Charlotte wartete. Irgendwas stimmte doch hier nicht.
    »Mama? Ist was mit Papa?«, fragte sie jetzt besorgt.
    Ihre Mutter goss den Rest des Wassers in den Ausguss und drehte sich um.
    »Dem geht’s gut«, sagte sie schroff, »wahrscheinlich viel zu gut«, fügte sie leise hinzu. Ihr Kinn zitterte.
    »Mama …« Charlotte wartete.
    »Dein Vater hat … eine andere«, schluchzte die und brach in Tränen aus.
    »Wie bitte?«
    »Ja, du hast richtig gehört«, stieß ihre Mutter hervor. »Ich werde mich scheiden lassen!«
    Charlotte schluckte. Das konnte doch nicht wahr sein! Ja, ihr Vater war ein alter Schwerenöter, das wusste sie, deswegen war sie selbst Männern gegenüber auch immer misstrauisch gewesen. Aber er war doch mittlerweile … zweiundsiebzig. Oder dreiundsiebzig? Charlotte stellte zu ihrer Bestürzung fest, dass sie das Geburtsjahr ihres Vaters vergessen hatte.
    Sie führte ihre Mutter zum Tisch und drückte sie auf einen Stuhl. Dann holte sie die Flasche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher