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Die Tote von Schoenbrunn

Die Tote von Schoenbrunn

Titel: Die Tote von Schoenbrunn
Autoren: Edith Kneifl
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vor allem symbolisch unheimlich wertvoll für das Reich“, widersprach Vera. „Ganz Europa war hingerissen von ihr, als sie jung war.“
    „Das mag schon sein, aber seit ich erwachsen bin, habe ich sie so gut wie nie wahrgenommen. Dafür hab ich Geschichten über Geschichten über sie gehört. Anscheinend war sie schon zu ihren Lebzeiten ein Mythos. Ein Volk braucht nicht nur Mythen, sondern auch präsentable Regenten, zumindest denken das die Leute, die wirklich regieren.“
    „Ich glaube nicht an ein Komplott der Aristokratie, diese Leute sind viel zu dekadent und viel zu faul und zu feige, um einen politischen Umsturz herbeizuführen, liebe Dorothea. Und die Geheimen machen so was nicht ohne Anweisung von oben. Die sind die Lakaien der Herrschenden.“
    „Ich kann nur hoffen, dass du Recht hast.“
    „Soviel man hört, hat die Kaiserin keinerlei Sicherheitsvorkehrungen auf ihren Reisen geduldet, sie wollte anonym bleiben und war daher ohne jegliche Bewachung unterwegs. Ihr lächerliches Inkognito, als Gräfin von Hohenembs aufzutreten, hat man bestimmt bald durchschaut. Ich bin überzeugt, dass jeder in Genf wusste, wer die Gräfin in Wirklichkeit war.“
    „Willst du damit etwa andeuten, dass sie selbst schuld an ihrer Ermordung war?“, warf Gustav ein.
    „Nein. Ich denke nur laut nach“, meinte Vera ungehalten.
    „Das würde meine andere Theorie unterstützen“, sagte Dorothea, ohne Gustavs Einwurf zu beachten. „Sie sehnte sich nach dem Tod. Vielleicht hat sie es selbst darauf angelegt, dass sich ihre Todessehnsucht erfüllt …“
    „Hör auf zu fantasieren, Dorothea. In der Zeitung stand, ein Anarchist hat sie ermordet, weil das Opfer, das er für sich auserkoren hatte, zufällig gerade nicht greifbar war.“
    „Es gibt keine Zufälle, Gustl, glaub mir!“
    Gustav war froh, als sich die Damen nach dem Mittagessen, das sie, wie immer, wenn sie keine Gäste hatten, in der Küche einnahmen, in ihre Zimmer zurück­zogen, um sich für das Begräbnis umzuziehen. Er konnte und wollte sich vor allem Dorotheas haarsträubende Theorien nicht länger anhören.
    Dorotheas Räumlichkeiten befanden sich links von der Eingangstür. Ihr Zimmer war etwas kleiner als die anderen beiden, dafür war ihr Ankleideraum doppelt so groß wie Veras. Dorothea hatte ihn mit Hilfe eines Schreibtisches und eines Bücherregals in ein Arbeitszimmer verwandelt. Deshalb kam sie auch kurz darauf mit einer Hand voller Kleider wieder in die Küche und störte Gustav beim Genuss eines Zigarillo und eines kleinen Verdauungsschnäpschens.
    „Musst du dir Mut antrinken fürs Begräbnis deiner geliebten Kaiserin?“
    „Zieh dich endlich um. Du bist dieselbe Trödelliese wie Vera“, sagte Gustav ungalant.
    Grinsend verschwand Dorothea in Veras Ankleide­zimmer, das sich im hinteren Teil der Küche neben der Dienstbotenkammer befand.
    Daraufhin suchte auch Gustav sein Zimmer auf. Er hatte den ehemaligen Salon, in dem nach seiner Geburt seine Großeltern gewohnt hatten, für sich allein. Es war der schönste und größte der drei Räume, hatte aber keinen eigenen Ankleideraum.
    Er zog seinen schwarzen Anzug an und schlüpfte in seine alten schwarzen Schuhe, die ihm Josefa aufpoliert hatte. Wenn er auf seine Schuhspitzen hinabblickte, konnte er fast sein Antlitz im spiegelglatten Lackleder sehen. Ungeduldig schritt er in der Küche auf und ab.
    „Setz dich endlich hin und trink deinen Kaffee“, sagte Josefa. „Die Damen benötigen sicher noch eine Weile.“
    Vom Küchentisch aus erhaschte er so manchen Blick auf Dorothea und Vera, die sich vor dem großen Spiegel im Ankleidezimmer seiner Tante kritisch beäugten.
    „Ihr seht fantastisch aus. Kommt endlich. Sonst werden wir die Zeremonie versäumen!“, rief er, nachdem sich Dorothea zum dritten Mal mit einem von Veras Schals im Spiegel betrachtet hatte.
    „Es ist völlig egal, was ihr anhabt, Hauptsache ihr seid schwarz gekleidet.“
    In Tante Veras Ankleidezimmer herrschte das übliche Chaos. Amüsiert beobachtete Gustav, wie sich Dorothea auf die Knie begab, um in den unteren Schubladen von Veras Schrank schwarze Handschuhe zu finden.
    „Schau lieber in den Bücherregalen oder auf ihrem Schreibtisch nach. Vera pflegt ihre Handschuhe dort abzulegen, wenn sie spät abends von ihren Frauenversammlungen nach Hause kommt“, riet Gustav seiner jungen Mitbewohnerin.
    „Josefa, könntest du diesem sinnlosen Treiben nicht endlich ein Ende bereiten? Bitte hilf den Damen beim Ankleiden,
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