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Die Tote ohne Namen

Die Tote ohne Namen

Titel: Die Tote ohne Namen
Autoren: Patricia Cornwell
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Jones hatte sie noch nicht fallengelassen, und auf dem Boden haben wir einen Schnellader gefunden.«
    »Er hat fünfmal geschossen und nicht getroffen?« fragte der Chief, der seine schicke Ausgeh-Uniform trug. Schnee bedeckte seine Kappe.
    »Schwer zu sagen. Sheriff Brown hatte eine kugelsichere Weste an.«
    »Er trug eine kugelsichere Weste unter der Weihnachtsmannkutte. « Der Chief wiederholte die Fakten, als würde er sich Notizen machen.
    »Ja.« Marino inspizierte eine verbogene Wäschestange, der Strahl seiner Taschenlampe suchte das rostende Metall ab. Mit dem Daumen einer behandschuhten Hand fuhr er über eine Delle, die von einer Kugel stammte. »Tja«, sagte er, »dem Bimbo ist es ordentlich an die Wäsche gegangen.«
    Ich zuckte zusammen.
    Der Chief, der ein Schwarzer war, schwieg einen Moment, dann sagte er: »Ich schlage vor, Sie verzichten in Zukunft auf rassische oder ethnische Anspielungen.« Der Krankenwagen traf ein. Ich begann zu zittern.
    »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich wollte nicht -« setzte Marino an.
    Der Chief unterbrach ihn. »Meiner Meinung nach sind Sie der ideale Kandidat für einen Kurs in multikultureller Toleranz.« »Ich habe bereits einen absolviert.«
    »Sie haben bereits einen absolviert, Sir, und Sie werden noch einen absolvieren, Captain.«
    »Ich habe drei Kurse hinter mir. Nicht nötig, mich noch einmal hinzuschicken«, sagte Marino, der lieber zu einer Darmuntersuchung gegangen wäre, als an einem weiteren Kurs in multikultureller Toleranz teilzunehmen.
    Türen wurden zugeschlagen, eine Metallbahre klapperte.
    »Marino, hier gibt's nichts mehr für mich zu tun.« Ich wollte nicht, daß er sich noch mehr Probleme an den Hals redete. »Und ich muß ins Büro.«
    »Was? Du willst ihn dir heute noch vornehmen?« Marino schien zu schrumpfen.
    »Angesichts der Umstände halte ich das für eine gute Idee«, sagte ich ernst. »Und morgen fahre ich weg.«
    »Sie verbringen Weihnachten im Kreis der Familie?« fragte Chief Tucker, der ein erstaunlich junger Polizeichef war.
    »Ja.«
    »Schön für Sie«, sagte er, ohne zu lächeln. »Kommen Sie, Dr. Scarpetta, ich fahre Sie beim Leichenschauhaus vorbei.«
    Marino beäugte mich argwöhnisch, während er sich eine Zigarette anzündete. »Ich schau rein, sobald ich hier fertig bin«, sagte er.

2
    Paul Tucker war vor ein paar Monaten zum Polizeichef von Richmond ernannt worden. Wir hatten uns allerdings nur einmal kurz bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung getroffen Heute abend waren wir uns zum erstenmal am Schauplatz eines Verbrechens begegnet. Was ich von ihm wußte, paßte auf eine kleine Karteikarte.
    Er war ein Basketball-Star an der Universität von Maryland gewesen und Empfänger eines Rhodes-Stipendiums. Er war körperlich in Superform, außergewöhnlich intelligent und hatte die FBI-Akademie absolviert. Ich glaubte, ihn zu mögen, war mir jedoch nicht sicher.
    »Marino meint es nicht böse«, sagte ich, als wir bei Gelb über eine Ampel an der East Broad Street fuhren.
    Ich spürte, wie mich Tuckers dunkle Augen neugierig musterten. »Die Welt ist voller Menschen, die es nicht böse meinen und eine Menge Schaden anrichten.« Er hatte eine wohlklingende dunkle Stimme, die mich an Bronze und poliertes Holz erinnerte.
    »Das läßt sich nicht bestreiten, Colonel Tucker.«
    »Nennen Sie mich Paul.«
    Ich bot ihm nicht an, mich Kay zu nennen, weil ich es nach vielen Jahren als Frau in dieser Welt besser wußte. »Es wird nichts nützen, Marino noch einmal zu einem Kurs in multikultureller Toleranz zu schicken«, fuhr ich fort.
    »Marino muß Disziplin und Respekt lernen.« Er starrte wieder auf die Straße.
    »Auf seine Art verfügt er über beides.«
    »Er sollte über beides auf die angemessene Art und Weise verfügen.«
    »Sie werden ihn nicht ändern, Colonel. Er ist schwierig, provozierend, hat schlechte Manieren, und er ist der beste Polizist in einem Morddezernat, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.«
    Tucker schwieg, bis wir am Medizinischen College von Virginia vorbeigefahren und nach rechts in die 14. Straße abgebogen waren.
    »Sagen Sie mir, Dr. Scarpetta, glauben Sie, daß Ihr Freund Marino ein guter Dezernatsleiter ist?«
    Die Frage verblüffte mich. Ich war überrascht gewesen, als Marino zum Lieutenant befördert wurde, und wie vor den Kopf gestoßen, als er Captain wurde. Er haßte die hohen Tiere, und dann wurde er selber einer von denen, die er haßte, und er haßte sie noch immer, als gehörte er nicht
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