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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels
Autoren: Sabine Weigand
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aus, mit hohlen Augen, das fahle Gesicht ausdruckslos. Er spielte gedankenverloren mit einem Stöckchen, auf dem ein großer Käfer krabbelte.
    »Ja«, sagte Primus und deutete mit dem Finger auf den Sitzenden. »Das ist aus ihm geworden. Er wird nie wieder jemandem etwas zuleide tun.«
    Dennoch lief es mir kalt über den Rücken. Um mich zu retten, mir Zeit zur Flucht zu verschaffen, hatten wir ihn im Kerker zurückgelassen. An Zunge und Kehlkopf verstümmelt, damit er nicht rufen oder reden konnte. »Ein dreiviertel Jahr später war der Landgraf in Marburg und hat wissen wollen, ob die Gefangene wirklich tot sei – Ortwin war schließlich nach seinem Auftrag nicht mehr bei ihm aufgetaucht, um Bericht zu erstatten. Man hat dann jemanden ins Loch hinuntergelassen, und der hat ihn gefunden. Da war er schon nicht mehr richtig im Kopf. Seither lebt er in dem kleinen Schuppen, wo wir die Kornvorräte lagern. Er kennt sich selber nicht mehr und kann keinen Schaden mehr anrichten.«
    Raimund sah mich an. »Er braucht dir nicht leidzutun«, sagte er und streichelte zärtlich meine Wange. »Er war böse. Wer weiß, wie viele er noch umgebracht hätte.«
    Er hatte ja recht. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie schuldig. Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich Ortwin noch eine Weile, dann wandte ich mich ab und folgte den anderen zurück zum Haus. Bis tief in die Nacht saßen wir noch beisammen und erzählten, schließlich übernachteten wir in der Wohnstube auf einer Strohschütte, weil die Stadttore natürlich längst geschlossen waren.
     
    Der nächste Morgen begann mit einem heftigen Gewitterguss, doch danach brach die Sonne aus den Wolken hervor, und der Himmel wurde blau. Es war kühl, die Luft roch frisch nach Regen und nassem Gras. Am Mittag sollte die Erhebung der Gebeine stattfinden. Endlich erfüllte sich Elisabeths sehnlichster Wunsch.
    Schon kurz nach Sonnenaufgang versammelte sich eine Menschenmenge im Hospital und auf dem umliegenden Gelände. Von überallher waren Pilger gekommen, man hörte Böhmisch und Ungarisch, Französisch und Flämisch. Auffällig viele Kinder waren unter den Gläubigen, viele von ihnen verkrüppelt oder sichtbar krank. Wie im Leben war Elisabeth auch im Tod für die Kleinsten da.
    Raimund und ich ließen Elschen bei Miriam und betraten schon ganz früh die Kirche, um einen guten Platz zu finden. Doch auch hier drinnen drängten sich schon die Menschen. Nur der Mittelgang wurde von bewaffneten Wachen freigehalten, damit die Würdenträger später frei und unbehelligt bis nach vorne zum Sarkophag gelangen konnten. Wir versuchten, uns am Rand weiter nach vorne zu schieben, wurden jedoch abgedrängt und standen schließlich in einer Nische im vorderen Bereich der Nordwand. Ich wurde mit der Hüfte gegen die unangenehm spitze Ecke eines einfachen Steinsarkophags gedrückt und versuchte, ein Stück weit davon wegzukommen, als mein Blick auf die Inschrift fiel.
    Meine Knie wurden weich. Da stand in großen Buchstaben ein Name, tief eingemeißelt in den weichen Marmor: CHUNRADUS DE MARBURGK . Mein Gott! Er war tot! Eine unglaubliche, tiefe Erleichterung überfiel mich. Dieser Teufel in Menschengestalt, dieser Unmensch, der Elisabeth auf dem Gewissen hatte, er lebte nicht mehr! »Raimund«, flüsterte ich und wies auf die Inschrift.
    Er legte stumm den Arm um meine Schultern. Und dann zeigte er mir jemanden. An der Stirnseite des Sarkophags standen Hand in Hand zwei Frauen, grau gekleidet und mit hellen Schleiern. Guda und Isentrud!
    Wir drängten uns zu ihnen durch. Himmel, was war das für ein wunderbares Gefühl, die beiden Gefährtinnen meiner Kindheit und Jugend wiederzusehen! Wir weinten und lachten; viel hätte nicht gefehlt und wir hätten mitten in der Kirche zu tanzen angefangen. »Wir wussten nicht, was mit dir geschehen war«, erzählte Guda. »Es hieß, du seist einfach verschwunden. Wo hätten wir denn suchen sollen?«
    Die beiden lebten immer noch in Hörselgau, wo Isentrud nach dem Tod ihres Mannes ein Haus als Witwensitz erhalten hatte. Immer noch hielten sie sich an ihr Gelübde, das sie zusammen mit Elisabeth abgelegt hatten, und kümmerten sich um Arme und Kranke im Hörseltal. »Wir waren genauso erleichtert wie du, als wir von Konrads Tod erfuhren«, erzählte Isentrud und drückte meine Hand. »Es war, als ob eine Last von unseren Schultern abgefallen wäre.«
    »Wie ist er gestorben?«, wollte ich wissen.
    »Erschlagen haben sie ihn! Wie einen Hund, zusammen mit dem
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