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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin
Autoren: Ursula Niehaus
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achtlos auf das Journal hatte fallen lassen. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, welchen Betrag sie denn nun in ihrem Journal vermerken sollte: den, welchen sie tatsächlich verloren hatte, oder den, der ihr entgangen war?
    Fygen entschloss sich, zur Sicherheit beide Werte zu notieren. Sorgfältig setzte sie das Datum hinter den Eintrag: 24 . Dezember im Jahre des Herrn 1499 . Dies würde der letzte Eintrag in das Geschäftsbuch des Jahres 1499 sein. Das Jahr war zu Ende. Und mit ihm das Jahrhundert.
    Mit dem Tag der Geburt des Herrn würde morgen ein neues Jahr beginnen. Und wie wohl jedermann an diesem Tag, so fragte auch Fygen sich, was das kommende Jahr für sie bereithielt. Es war nicht schön, das Geschäftsjahr mit dem Eintrag eines Verlustes zu beenden, dachte sie ein wenig beklommen. Hatte sie sich vielleicht zu sehr in die Sache mit Valencia verrannt? Sich zu große Dinge vorgenommen? Vielleicht wäre es besser, die ganze Idee einfach fallenzulassen?
    Von Sankt Cäcilia her schlug die Glocke und gemahnte Fygen daran, die Arbeit zu beenden. Es war an der Zeit, in ihre Kammer hinaufzusteigen und sich umzukleiden, wollte sie ihre Gäste nicht im Hemd empfangen. Es waren zwar nur Fygens drei Töchter mit ihren Familien und wenige enge Freunde geladen, um nach dem Kirchgang bei ihr das neue Jahr zu begrüßen. Dennoch geziemte es sich nicht für die Gastgeberin, als Letzte zu erscheinen.
    In Fygens Schlafgemach wartete die hagere Hilda bereits darauf, ihr mit dem Ankleiden behilflich zu sein. Die wortkarge Haushälterin war in die Jahre gekommen, und die Leitung des Haushaltes war ihr zunehmend beschwerlich geworden. Doch Fygen hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr die Aufgabe aus den Händen zu nehmen. Stattdessen hatte sie Hilda mit Regina eine verständige junge Gehilfin zur Seite gestellt.
    Einige Aufgaben jedoch würde Hilda sich erst nehmen lassen, wenn sie dereinst auf dem Totenbett läge, und dazu zählte auch das Ankleiden ihrer Herrin. Mit geübtem Griff streifte sie Fygen das Unterkleid aus schilfgrünem Seidentaft über den Kopf und glättete die Falten des weit fallenden Rockteiles. Dann ließ sie das Oberkleid aus schwerem besticktem Fluvel darübergleiten, jenem samtigen Gewebe, dessen Flor zwischen Dunkelgrün und Nachtschwarz changierte, je nachdem, wie das Licht darauffiel.
    Fygen streckte die Arme durch die weiten Armausschnitte, die beinahe bis zur Taille reichten, und während Hilda das Kleid auf dem Rücken zurechtzog und sich daranmachte, die Verschnürungen zu binden, warf Fygen einen kritischen Blick in den Spiegel, welcher der Bettstatt gegenüber an der Wand ihrer Kammer hing.
    Vor einem halben Jahr hatte sich der Tag ihrer Geburt zum vierzigsten Mal gejährt, doch die Jahre waren gnädig mit ihr umgegangen. Ihre Haut hatte eine frische, gesunde Farbe, und – Gott sei es gedankt – sie besaß noch alle Zähne.
    Haarfeine Linien hatten sich in die Haut um ihren eine Spur zu breiten Mund gegraben, und die winzigen Fältchen, die sich in den Augenwinkeln kräuselten, mochten weniger vom Gram denn vom Lachen herrühren.
    Natürlich hatte sie in der Taille ein wenig an Umfang zugenommen, aber das war verzeihlich. Schließlich war sie eine erwachsene Frau und kein junges Mädchen mehr. Dafür fand sich in der dunklen, noch immer üppigen Flut brauner Locken nur vereinzelt ein silberner Faden.
    Fygen warf ihrem Spiegelbild einen beinahe koketten Blick zu. Nein, mit ihrem Aussehen durfte sie wirklich nicht unzufrieden sein. So manch eine weit Jüngere würde sie darum beneiden. Zufrieden stieg sie die geschwungene Treppe hinab, um ihre Gäste zu begrüßen.
     
    Ein paar Stunden hatte das vielgängige Festmahl gedauert, doch nun endlich war man gesättigt und zerstreute sich im großen Saal im Obergeschoss der Wolkenburg, ein jeder einen mit gutem Rheinwein gefüllten Becher in der Hand. Die Wolkenburg, die Peter einst als Wohnhaus für die Familie erworben hatte, war, auch wenn der Name es vermuten ließ, keine Burg, sondern einer jener großen Höfe, die innerhalb des Stadtgebietes lagen. Das Wort »Burg« im Namen verdankte das Haus seinen trutzigen Eckwarten, die »Wolken« ihrer Nähe zur städtischen Wollküche, in der die Rohwolle gewaschen und vom Fett befreit wurde, denn an kalten Tagen hüllten Wasserdämpfe die ganze Umgebung in dichte Nebelwolken.
    Fygen trat grübelnd ans Fenster. Der Gedanke an Valencia ließ ihr keine Ruhe. Die Wärme, die dem großen Kamin
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