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Die Teeprinzessin

Titel: Die Teeprinzessin
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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wollten der Vater und sein Geselle wieder zwei Monate lang an einem der riesigen Präsentierteller arbeiten, der dann doch nur im Schaufenster stand, weil alle ihn sehen und niemand ihn kaufen wollte?
    Betty erhob sich vom Bett, zog das lange Nachthemd über ihren Kopf und konnte einen Moment lang nichts sehen, weil
sich der gefeilte Perlmutterknopf ihres Kragens in ihren langen Locken verfangen hatte. Sie erstarrte. Knarrte da ihre Zimmertür? Und woher kam der kühle Luftzug, der ihren nackten Bauch streifte? Sie zerrte an ihrem Nachthemd, das nun am Kopf festsaß. Dabei mussten auch ein oder zwei Haare daran glauben. Sie biss die Lippen zusammen, als sie ihren Kopf wieder hervorstreckte. Hatte sich eben nicht der blank polierte Türknauf bewegt? Sie spürte jetzt erst, dass das Klingen der Silberhämmer verstummt war. Die Tür fiel mit einem leisen Seufzen wieder ins Schloss zurück. Wer hatte da in ihre Kammer gesehen? Oder war das nur ein Windzug gewesen? Klapperten da nicht Holzpantinen über den Steinboden im Flur?
    Betty zog mit festem Griff die Vorhänge zur Seite. Im Garten war alles still, kein Blatt bewegte sich. Kein Vogel zwitscherte. Manchmal erschien es Betty, als ob auch die Vögel den Klang der Silberhämmer nicht ertragen konnten. Nur ein paar junge Bienen summten zwischen den kurz geschorenen Hecken, die die Kräuterbeete einfassten.
    Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet, dass jemand in ihr Zimmer eingedrungen war. Und doch. Ein feiner fremder Hauch schien in der Luft zu liegen. Betty zog die Nase kraus. Da war der Geruch von grobem Leinen. Und darüber lag der metallische Atem von geschmolzenem Silber. Der säuerliche Dunst eines ungepflegten Körpers. War es denkbar, dass der Geselle Elkhuber in ihre Kammer gespäht hatte? Gerade in dem Augenblick, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog? Oder bildete sie sich diesen eigenartigen leichten Dunst wieder nur ein? »Andere Leute hören das Gras wachsen, und du riechst, wie es wächst«, sagte Anton immer. »Das solltest du unbedingt zu einer Kunst ausbauen!«
    Anton! Sie waren verabredet. Wie spät war es? Sie würde sich nun aber wirklich beeilen müssen. Sie schlüpfte in die knielange
weiße Unterhose, zog ein dünnes seidenes Sommerhemd an und nahm ihr baumwollenes Mieder vom Stuhl, das sie nur locker über dem Rücken zusammenzog. Das leichte Sommerkleid mit den rosa und gelben Streublümchen war schon vom Vorjahr und um die Taille herum auch bereits etwas eng, vor allem, da sie keine Lust hatte, sich so eng zu schnüren, wie viele Mädchen in ihrem Alter das bereits taten. Aber das Kleid war für diesen Tag genau richtig. Wichtig war vor allem, dass es von möglichst heller Farbe war. Das war sogar sehr wichtig! Das Kleid war das hellste, das Betty besaß. Anton würde sich freuen.
    Betty streckte den Kopf auf die Diele hinaus. In der Küche werkelte Frau Pannfisch und schimpfte dabei wie immer leise vor sich hin. Aus der Silberschmiede erklangen wieder die Hämmer. Der Tee für die Männer war offenbar auch schon fertig. Betty zog den zarten Duft des mit Bergamottöl parfümierten Tees ein, den die Erwachsenen jetzt alltags immer tranken. Seit die Teepreise sich mehr als verdoppelt hatten und auch die exzellenten Londoner Kontakte des benachbartenTeehandelshauses Asmussen nicht mehr für gut gefüllte Teelager am Hafen sorgten, konnte man sich bei Henningsons den gewohnten unparfümierten Chinatee nur noch sonntags leisten, wenn überhaupt. Und junge Mädchen wie Betty sollten ihn plötzlich überhaupt nicht mehr trinken. In größeren Mengen vernebelte er angeblich die Sinne. Kinder konnten und sollten ihn trinken, für verheiratete Frauen war er nachgerade gesund, für Männer jeden Alters ohnehin. Aber für Mädchen in Bettys Alter war er schädlich.
    Zumindest war Berthold Henningson dieser Ansicht. Wenn er die eigensinnige Betty schon ohne ihre Mutter aufziehen musste, so murmelte er oft, dann wollte er wenigstens sonst alles recht machen. Recht, das hieß im Hause Henningson vor
allem getreu den vielen Regeln: Ein Mädchen sollte lesen und schreiben können und ein wenig handarbeiten. Ein Mädchen sollte stets höflich und zurückhaltend sein. Ein Mädchen durfte ab dem ersten Mai hellere Kleider tragen, ab Pfingsten einen Sommerhut mit Blumen. Mädchen gingen in die Schule, bis sie vierzehn waren, danach lernten sie »den Haushalt«. Alltags gab es ein Torffeuer im großen Küchenofen, sonntags kamen einige Scheite
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