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Die Teeprinzessin

Titel: Die Teeprinzessin
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und dem Rotwein abhold, und beide im Grunde nicht ganz so streng, wie sie manchmal wirken wollten, waren seit vielen Jahren miteinander befreundet.
    Betty blinzelte immer noch zur Kammer von Anton hinauf. Er hatte die Vorhänge offenbar noch nicht aufgezogen. Vermutlich wollte er niemanden, der zufällig nach oben schaute, darauf aufmerksam machen, dass er bereits aufgestanden war. Aber er hätte doch trotzdem einmal nach draußen linsen können! Betty wusste schließlich, dass er zu Hause war und dass er auf sie wartete. Warum, zum Kuckuck, schaute er jetzt nicht aus dem Fenster und kam endlich mit seiner Ausrüstung nach unten auf die Straße? Betty wollte nicht noch viel länger hier
unten stehen und warten. Schon war die alte Eierfrau stehen geblieben und hatte sogar ihren Korb auf den Boden gestellt. Ihr dumpfes gerötetes Gesicht entspannte sich und der Mund öffnete sich vor Erstaunen. Sie würde bald nicht mehr die Einzige sein, die neugierig zu Betty herüberglotzte. Am Ende der Straße knirschte bereits ein Lastkarren heran. Gleichzeitig öffnete sich das Seitentor der Asmussens eine Handbreit. Jetzt würde der Knecht auf die Straße treten und den ganzen Tag lang stumm wie ein Pfeiler auf Arbeit warten.
    »Hey, pst!«
    Betty fuhr herum. Sie sah für einen Moment lang den blonden Schopf von Anton in der Toreinfahrt, dann streckte er die Hand aus und winkte sie zu sich herein.
    Betty schlüpfte widerwillig durch das große Tor. »Was soll das?«, raunte sie. »Warum kommst du nicht aus der Vordertür? Soll dein Vater dich wieder erwischen, wenn er aus dem Kontorfenster schaut? Oder sag bloß, er schläft noch? Ich habe bestimmt fünf Minuten hier auf der Straße herumgestanden. Dachtest du etwa, ich pfeife nach dir wie ein Straßenjunge? Wir wollten doch zum Fotografieren zum Deich gehen! Ab halb acht wird das Licht zu grell, das sagst du doch selbst immer. Sieh mal, ich habe extra ein helles Kleid angezogen!«
    Wo hatte Anton überhaupt seine Fotoausrüstung? Allein das hölzerne Stativ wog fast sechzig Pfund, und auch die große Kamera mit den vielen schweren Platten konnten sie nur auf einem Handkarren bewegen, den sie gemeinsam ziehen mussten. Da war es wichtig, dass sie am Hafen vorbei waren, bevor die ersten Händler dorthin strömten. »Warum hast du die Karre noch nicht bereit gemacht? Wo sind deine Sachen? Es ist spät. Wenn wir noch lange warten, ist der Markt voller Menschen und die Leute bilden eine Gasse, um uns hindurchzulassen, und bevor es Mittag wird, weiß ganz Emden, dass der einzige
Sohn des Teehändlers Asmussen lieber fotografieren will, als den Betrieb des Vaters zu übernehmen. Was sage ich, das ganze Königreich Hannover wird es wissen. Dir muss doch klar sein, wie zornig dein Vater wird, wenn er dich noch einmal an einem Wochentag mit deiner fotografischen Ausrüstung sieht! Weißt du nicht mehr, wie er sich letztes Mal aufgeregt hat?«
    Anton hatte die ganze Zeit geduldig zugehört. Seine Stimme war leise und sanft, wie immer. Anton regte sich äußerlich fast niemals auf. »Wir können heute nicht zum Fotografieren gehen. Hier passieren seltsame Dinge. Komm mit, aber sei leise!« Er nahm ihre Hand und zog sie vorsichtig hinter sich her. »Pass mit den Stufen auf!«
    Betty gab einen wenig mädchenhaften Grunzlaut von sich. Die Stufen! Dass die sechste Stufe im Kontorhaus knarrte, hatte sie bereits gewusst, bevor sie überhaupt rechnen konnte. »Was ist denn mit dir los, Anton?«
    Anton schüttelte nur den Kopf und hielt ihre Hand fester. Fast fühlte sich sein Händedruck so weich und zärtlich und gleichsam zielstrebig an wie der von Liesettchen, Bettys alter Freundin aus der Schule.
    »Zieh nicht so!«, maulte Betty.
    Anton drehte sich immer wieder zu ihr um und legte den Finger an die Lippen. Betty spürte die Kälte der Wände. Die steilen Treppen rochen nach Heimlichtuerei. Anton schlich voran bis auf den dritten Zwischenboden. Hier oben gab es einen riesigen Raum, der besonders gut geschützt und der angeblich sogar feuersicher war, denn die Wände waren dick und die Bohlen auf dem Boden aus alter Mooreiche gefertigt, hart, schwer und fest wie Eisen. Im sogenannten Zwischenstock wurden die wertvollsten Teesorten gelagert, denn bis hierher drangen angeblich nicht einmal die Düfte der vier anderen großen asmussenschen
Teelager vor. Was hier lag, das sollte in völliger Abgeschiedenheit ruhen. Zurzeit war der Zwischenstock leer. Aber konnte man nicht immer noch den leisen
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