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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens
Autoren: Paulus Hochgatterer
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die Buchsbaumhecke. Das Loch, in dem die Raupe schläft. Das Pferd kommt diesmal nicht. Die Dinge verändern sich.
    Die Wand entlang, dann nach links, auf das Haus der Eltern zu.
    Im Türlicht verschwindet der Mond. Der Bruder steht da und schaut auf die Hand des Kindes. »Was hast du da«, fragt er. Das Kind öffnet die Faust. Ein gelber Stöpsel und ein blauer Soldat. Es hätte sie zurückstellen müssen, den Stöpsel genau vor den Stall und den Soldaten vier Schritte dahinter. Das Kind rührt sich nicht. »Vier«, sagt es, »vier. Ich hab dich.« Der Zeigefinger ist vorne ganz rot. Der Stöpsel hat seinen Kopf noch, der Soldat auch.
    Der Hund ist plötzlich da. Er schnüffelt erst an den Beinen des Kindes herum, dann an seiner Hand. Er duckt sich, legt die Ohren flach und stößt einen singenden Laut aus. Das Kind macht einen Schritt auf ihn zu. Der Hund robbt rückwärts und starrt zur Tür, gerade so, als habe er dort ein Gespenst gesehen.

Eins
    Er öffnet das Fenster. Kälte fällt in den Raum. Zuerst ist es still, dann hört man in der Ferne das Starten eines Autos. Sonst rührt sich nichts.
    An der Wand das Plakat mit der Regel. Er spürt, wie er auseinanderbricht. Die Sätze.
    Höre mein Sohn auf die Weisung des Meisters .
    Es beginnt in der Mitte. Eine Bruchlinie, die er nicht orten kann. Er schluckt zwei braune Dragees.
    Er steht da. Das Brennen auf der Haut. Nur die Fingerspitzen sind frei davon. Von draußen kommt ein wischendes Geräusch. Vermutlich der Fuchs, der über den Hof schleicht. Eine Luft ohne Geruch. Der Mond ist längst weg. Alles eine Täuschung. Langsam spannt er die Oberschenkel. Die Regel. Worte, die er zusammenführt.
    Willig durch die Tat.
    Er tut alles wie immer. Am Anfang isometrisch eine Muskelpartie nach der anderen. Beine, Arme, Nacken, Rumpf. Kontrahieren, entspannen. Kontrahieren, entspannen. Danach ein paar Dehnungsübungen. Die Hüfte zuerst. Kniebeugen. Strecksprünge, locker, ohne jede Anstrengung. Die Arme pendeln lassen, dann in die Höhe ziehen.
    Ab vierzig nimmt die Gefahr von Muskelfasereinrissen eklatant zu. Er hat das knapp nach seinem Geburtstag gelesen, in der Wochenendbeilage einer Zeitung. Die Dinge, die einem Angst machen, erfährt man immer im richtigen Moment. Allmählich wird er an den Flanken warm. Er breitet die Arme zur Seite aus. Von den Schläfen her schiebt sich diese wilde Klarsichtigkeit vor seine Augen. Der Riss beginnt zu verschwinden. Die Furcht bleibt. Er weiß, dass er dagegen nichts tun kann.
    Er schlüpft in die graue Baumwollgarnitur, in die Socken, in die Laufschuhe. Dem Sweater geht an der rechten Schulter die Naht auf. Er wird ihn Irma geben. Sie wird zwar über die Schwierigkeiten mit dem Schleimbeutel an ihrem Ellbogen jammern, andererseits wird sie weiterhin Wert darauf legen, dass sich keiner von ihnen seine Sachen selber flickt. Ihre Augen sind inzwischen noch schlechter geworden und sie näht daher noch grauenhafter als früher, aber es sagt ihr keiner.
    Den iPod an den Bund, die Knöpfe in die Ohren. In dieser Situation immer dasselbe. Nummer sechs. Father of Night. Dauerschleife.
    Den Gang entlang, ohne Licht, siebenundzwanzig Schritte. Die Treppe hinunter, nach links in den Wirtschaftskorridor, durch die schmale Tür in den Hintergarten. Festgetretener Schnee unter den Füßen, der Weg ist freigeschaufelt. Bernhard war am Werk, der Mann, der manchmal wochenlang kein Wort spricht.
    Er startet los. Die Nacht ist schwarz wie das Innere eines Samtsackes. Das treibt ihn an. Am Abend war der Himmel noch sternenklar. Er hat an den kleinen Ort an der Salzach gedacht mit seiner seltsamen Verheißung. Für eine Weile war er unbesiegbar. Jetzt ist die Hölle hinter ihm her.
    Er hält schräg über die freie Fläche auf die Platane zu, die nahe der Mauer steht, schlüpft durch das Lanzengittertor, das nur angelehnt ist, obwohl es aussieht, als sei es seit Jahrhunderten versperrt. Er ist draußen.
    Sie nennen ihn ›Läufer‹, manche auch ›Integral‹, wegen seiner Gestalt, er weiß das, und Ngobu, der Hospitant aus Nigeria, sagt überhaupt seit einigen Wochen nur noch ›LDR‹ zu ihm, ›Long Distance Runner‹. Das wird sich durchsetzen, er spürt es, alle werden ihn so nennen. Es klingt zwar wie eine besonders gefährliche Art von Cholesterin, aber so etwas setzt sich immer durch.
    Er trabt die nordseitige Begrenzungsmauer entlang. Es ist windstill und hat schätzungsweise ein, zwei Grad unter null. Er überquert die Weyrer Straße und
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